
Identität als Irrlicht
Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer erklärt die Psychologie des Rechtsextremismus und zerpflückt das rechtsextreme Konzept von Identität. Es gefährde nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gesundheit von Menschen.
Gastkommentar: Klaus Ottomeyer. Illustrationen: P.M. Hoffmann.
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Beim Versuch, den aktuellen Rechtsextremismus zu erklären, wird oft von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den angstmachenden großen Krisen, der Klimakrise, der Corona-Krise, dem Ukraine-Krieg, dem Kaufkraftverlust auf der einen Seite und der Faszination des Rechtsextremismus auf der anderen Seite, gesprochen. Es gibt hier aber eine Erklärungslücke. Es ist überhaupt nicht schlüssig, dass die Angst vor den realen großen Bedrohungen, welche wir haben (oder haben sollten), mehr oder weniger automatisch zu einer hasserfüllten Beschimpfung, Erniedrigung und Abschiebedrohung gegenüber einer Gruppe von ausgewählten Personen führt, vor denen man Angst haben soll und die als gefährlich gelten. Die Angst und die Aggression beziehen sich auf Menschen, die vor Jahren oder Jahrzehnten eingewandert sind – und daneben auch auf solche, die nicht unbedingt in den traditionellen Geschlechterrollen leben, und stattdessen zum Beispiel „gendern“ wollen. Es gibt hier einen Angstkomplex, den man mit Sigmund Freud nur als neurotische Angst im Unterschied zur Realangst bezeichnen kann.
Im Staubsauger der Demagogen entstehe eine toxische Mischung aus Realängsten, neurotisch-paranoider Angst und Wut, schreibt der Sozialpsychologe und Psychotherapeut Klaus Ottomeyer.
Realangst ist überlebensfördernd. Ohne die Angst vor äußeren Gefahrenquellen würden wir blind in jede Gefahr hineinlaufen oder wären schon tot. Natürlich sind wir, wie unser jahrzehntelanger Umgang mit der Erderwärmung zeigt, auch gegenüber der Realangst große Künstler im Verleugnen und Bagatellisieren. Neurotische Angst oder „Binnenangst“ hingegen empfinden wir gegenüber unseren eigenen inneren Regungen: unserer Gier, aggressiven Größenphantasien, ungewollt auftauchenden obszönen Bildern und unseren Hirngespinsten. Wir haben ein beunruhigendes Wespennest in uns selbst. Die gefährlichen Seiten unserer inneren Natur projizieren wir aber lieber auf Personen und Gruppen in der Außenwelt, wo sie dann verfolgt und entschieden bekämpft werden. Damit bewegen wir uns im Feld der neurotisch-para-noiden Angst.
Neben der Realangst und der neurotischen Angst muss man aber noch die Gewissensangst ansprechen, laut Freud die dritte der menschlichen Grundängste. Diese Angst vor unserem Über-Ich wird von den neuen harten Machos wie AfD-Politiker Bernd Höcke („Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken”) lächerlich gemacht. Sie soll durch eine notwendige „wohltemperierte Grausamkeit“ (Höcke) in Bezug auf Auszubürgernde und Hilflose ersetzt werden. Die äußeren Repräsentanten des Gewissens werden als „Gutmenschen“, als Vertreter:innen eines „Tugendterrors“ und neuerdings auch einer aufdringlichen „Wokeness“ lächerlich gemacht und persönlich bedroht. Die neuen Scharlatane versprechen ihren Anhänger:innen ein unbeschwertes fröhliches Leben ohne den manchmal doch recht schweren Rucksack des Über-Ichs, des Gewissens.
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Ängste werden von den Demagogen
aufgespürt und mit Hirngespinsten vermengt.
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Der Angststaubsauger
Die rechtsextremen Demagogen arbeiten damit, dass sie alle möglichen in der Gesellschaft herumgeisternden Ängste, darunter auch Realängste, systematisch aufgreifen und in neurotisch-paranoide Ängste transformieren. Die Ängste werden von den Demagogen mit großer psychologischer Sensibilität aufgespürt, wie mit einem Staubsauger eingesammelt und mit Hirngespinsten vermengt. Die Ängste werden dabei konkretisiert und personalisiert. Man nennt einige konkrete Personen oder überschaubare Gruppen (Eliten, Verschwörer, Flüchtlinge), deren Bestrafung oder Beseitigung die angstmachenden Missstände umgehend beenden würde. Es wird so getan, als ob es nur einige wenige dingfest zu machende Ursachen für die Angst gäbe, welche von einer Gruppe beherzter Personen rasch beseitigt werden können, zum Beispiel durch den Sturm auf das Machtzentrum. Die für die Missstände angeblich Verantwortlichen können dann auf Fahndungslisten gesetzt werden. Im Staubsauger entsteht eine toxische Mischung aus Realängsten, neurotisch-paranoider Angst und Wut.
Der Angststaubsauger ist mit einer Art Dreckschleuder verbunden, mit der man auf bestimmte Personen und Gruppen zielt. Dabei ist es praktisch, wenn man die ausgewählten Gruppen mit entwertenden Namen wie „Asylbetrüger“, „Mastdarmakrobaten in der EU“, „Feministen-Gender-Woke-Geschwader“ belegen kann. Politische Mitbewerber werden von Herbert Kickl zum „Swingerclub der Machtlüsternen“ erklärt, gehören wie gesuchte Verbrecher „auf die Fahndungsliste“ oder sind „Folterknechte“.
Den Bundespräsidenten nennt Kickl „senil“ und „Mumie in der Hofburg“. Den Namen des aktuellen SPÖ-Chefs verballhornt er zu „Herrn Blabla“. Einen früheren Kanzler nennt er „dicke, rote, fette Spinne“. Er machte sich über die Gesichtsfarbe eines Parlamentariers und über dessen vermutlich hohen Blutdruck lustig, über einen älteren ÖVP-Politiker, dessen Erscheinung er mit Ötzi verglich und mit einem „Verstorbenen, der nur noch zuckt“. Kickl hebt das Übergewicht und die physische Unattraktivität von Arbeitnehmervertretern hervor („Alle dick, statt ausgemergelt“). Ein prominenter Politiker aus dem grünen Spektrum, der über die FPÖ recherchiert, habe vom vielen Sitzen schon „einen Hintern rot wie ein Pavian“ und die Sprecherin einer anderen Partei „mehr Haar‘ auf den Zähnen als auf dem Kopf“. Auf die verbale Erniedrigung, Kriminalisierung und Dehumanisierung des Gegners reagiert das Publikum immer wieder mit Lachsalven und Schenkelklopfen. Durch die spontane Eruption von Schadenfreude erodieren in Sekundenschnelle die Reste der Gewissensangst, welche in unserer zivilisierten Alltagskommunikation die Verletzungsbereitschaft gegenüber anderen Menschen normalerweise noch unter Kontrolle hält. Bevor sich das Gewissen meldet, hat man schon gelacht.
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Auf die verbale Erniedrigung, Kriminalisierung und
Dehumanisierung des Gegners folgen Lachsalven.
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Identität als Irrlicht
Die rechten Demagogen betätigen sich nicht nur in Bezug auf die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen als Ratgeber, sondern sie verbreiten auch auf der großen Bühne der nationalen und internationalen Politik ein umfassendes Heilungsversprechen. Sie versprechen nicht mehr und nicht weniger als die Herstellung oder Wiederherstellung von „Identität“. Haben wir nicht alle manchmal das Gefühl, unsere Identität verloren zu haben oder zerrissen zu sein? Identität ist doch etwas Gutes. Die „Identitären“ haben unter dem Schutzschirm von FPÖ und AfD in den letzten zwölf Jahren und unter dem Deckmantel der akademischen Sprache einen Identitätsbegriff verbreitet, der schwachsinnig, unpraktikabel und gefährlich ist.
Das Konzept der Identität hat erst Ende der 60er-Jahre über den Psychoanalytiker Erik H. Erikson Eingang in die Psychologie und Humanwissenschaften gefunden. Es kann sinnvoll mit Selbstgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit übersetzt werden. Im Bildungssystem der 70er- und 80er-Jahre stand „Identität“ für die Entwicklung einer emanzipatorischen Beziehung des Menschen zu sich selbst. Diese Beziehung eröffnet im Verlauf der Lebensgeschichte Möglichkeiten der Selbstreflexion und Selbstkritik. Das ist so ziemlich das Gegenteil einer einfachen, bekenntnishaften Gruppenzugehörigkeit, wie sie den Rechten vorschwebt. Die Entstehung und Ausgestaltung von Identität sind vielfach untersucht worden.
Die Gefahr benennen und nicht den Kopf in den Sand stecken: Klaus Ottomeyer warnt vor den Gefahren der rechtsextremen und identitären Heilungsversprechen.
Eine gute Basis von Identität sind bekanntlich Liebe und Vertrauen in unsere frühen familialen Bezugspersonen („Urvertrauen“). Soziale Anerkennung in Gruppen spielt bald eine Rolle, auch die Zugehörigkeit zu einer Nation, Religion oder kulturellen Gruppe. Zu einer stabilen und flexiblen Identität („Ich-Identität“) gehört aber immer auch das Ausbalancieren von verschiedenen („multiplen“) Gruppen-Zugehörigkeiten und von teilweise sehr unterschiedlichen Teilidentitäten. Um seine Identität zu erhalten, muss man sich oft genug vom aktuellen Gruppenkonformismus klar abgrenzen. Manchmal auch mit Ironie oder „Rollendistanz“. Man muss so sein wie alle anderen und zugleich so sein wie kein anderer.
Die Rechtspopulisten und Rechtsextremen propagieren die Zugehörigkeit zu einer einzigen ethnisch homogenen Großgruppe als den allein glücklich machenden Weg zur Identität. Dabei wird mit einer auffälligen Penetranz die Überlegenheit der eigenen Großgruppe über andere Gruppen betont und skandiert: „America first!“, „Unser Land zuerst!“, „Zuerst Italien und die Italiener!“, „Ungarn an erster Stelle!“, „Britain first!“, „Les Français d’abord!“ usw. Das relativiert sich eigentlich wechselseitig. Man kann sich das Gedränge vorstellen, wenn alle Rechtsextremen auf einem Platz versammelt wären.
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Wir sollten den rechtsextremen Ungeist benennen, der
die Demokratie und Gesundheit der Menschen gefährdet.
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„Man hat es wissen können“
Zu Beginn der Amtszeit von Donald Trump haben 27 bekannte Psycho-log:innen und Psychiater:innen in den USA davor gewarnt, dass mit Trump ein Mann mit den Charakterzügen eines bösartigen („malignen“) Narzissmus und mit asozialen Neigungen ins Präsidentenamt kommen würde. Man hat die Expert:innen kritisiert, weil sie damit gegen eine ältere Regel (die „Goldwater Rule“) verstoßen hätten, die besagt, dass man über lebende Politiker in der Öffentlichkeit keine psychologischen oder psychiatrischen Diagnosen verbreiten darf. Außerdem wisse man noch gar nicht, wie sich die kritisierten Eigenschaften in der realen Amtsführung zeigen würden. Es werde vielleicht nicht so schlimm. Nachher kam aber alles noch viel schlimmer. Inzwischen weiß dank Trump die ganze Welt, was bösartiger Narzissmus ist. Die menschenfeindlichen Züge des neuen Rechtsextremismus und die psychologischen Tricks, mit denen Herbert Kickl das Publikum zur einer Selbsterhöhung sowie zur Erniedrigung und Verfolgung anderer einlädt, sind jetzt schon gut sichtbar und erklärbar. So kompliziert sind die Tricks, die an unsere niedrigsten Instinkte appellieren, nicht.
Es stehen in Österreich wie auch in den USA und Deutschland Wahlen an. Man sollte vorher wissen, wessen Geistes Kind der angekündigte Volkskanzler oder Erlöser ist, bei dem man sein Kreuz macht. Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen können und sollten öffentlich den rechtsextremen und identitären Ungeist benennen, der nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gesundheit von Menschen gefährdet.
Klaus Ottomeyer ist Sozialpsychologe und Psychotherapeut. Er war bis 2013 Ordentlicher Professor an der Universität Klagenfurt. Auf seine Initiative wurde am 2. Mai 2024 ein „Offener Brief von 300 PsychologInnen und PsychotherapeutInnen“ versendet, der dazu aufruft, Rechtsextremismus zu verhindern.
Der Text erschien erstmals auf www.stopptdierechten.at. Das MO-Magazin druckt eine gekürzte Fassung.
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