Im ständigen Krisenmodus
Geflüchtete Frauen laufen besonders große Gefahr, Opfer von (sexualisierter) Gewalt zu werden. Hilfe suchen sich viele Betroffene aber oft erst, wenn Traumata das alltägliche Leben bereits massiv einschränken. Der Verein Hemayat ist die einzige Anlaufstelle in Wien, die sich speziell an sie richtet.
Text: Naz Küçüktekin.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
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Ich wusste, würden sie mich kriegen, würden sie mich im besten Fall vergewaltigen oder als Sexsklavin halten. Und im schlimmsten Fall würden sie mich töten”, erinnert sich Aljeen Hasan an die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, als die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) immer näher an ihre Heimatstadt Kobane im kurdischen Teil Syriens rückte. „Wir kannten alle die Geschichten von vor allem jesidischen Frauen, die sogar vor ihrer Familie vergewaltigt wurden”, sagt sie. 2014 war für die 14-jährige Hasan und ihre Familie daher klar, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Innerhalb von Stunden machten sie sich zu Fuß auf den Weg in die Türkei. In der Stadt Urfa kamen sie bei Verwandten unter. Circa zwei Jahre lebte Hasan mit ihrer Familie in der Türkei, ehe sie 2016 nach Österreich kamen. „Mein Bruder floh zuerst allein nach Österreich und holte uns dann im Rahmen der Familienzusammenführung nach”, erzählt sie. Die Ängste, die Hasan beschreibt, sind für viele geflüchtete Frauen nicht ungewöhnlich. Wie auch in vielen anderen Bereichen und Situationen sind Frauen in Kriegsgebieten sowie auf der Flucht besonders vulnerabel.
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ES DAUERE OFT JAHRE, BIS SICH BETROFFENE HILFE
SUCHEN. DAS FÜHRE ZU EINEM VERZÖGERTEN BILD.
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Cecilia Heiss hat als Geschäftsführerin von Hemayat täglich mit traumatisierten Frauen mit Fluchterfahrung zu tun. Der 1995 gegründete Verein mit Sitz im neunten Wiener Gemeindebezirk bietet als einzige Anlaufstelle in Wien dolmetschgestützte traumatherapeutische Betreuung und Behandlung speziell für Folter- und Kriegsüberlebende an. „Egal, in welchem Gebiet auf der Welt, zu vergewaltigen ist ein Kriegsmittel. Es ist einfach unglaublich, wie viel Gewalt Frauen in solchen Situationen ausgesetzt sind und wie strukturell das auch ist”, erklärt die Psychologin.
Im Jahr 2023 wurden bei Hemayat 1624 Menschen, darunter 227 Minderjährige, aus insgesamt 57 Ländern betreut. 46 Prozent der betreuten Menschen waren weiblich. „Wenn man bedenkt, dass es viel mehr männliche als weibliche Asylbewerber:innen in Österreich gibt, ist das ein extrem hoher Anteil”, sagt Heiss.
Beim Verein Hemayat finden Folter- und Kriegsüberlebende seit bald 30 Jahren traumatherapeutische Betreuung und Behandlung.
Ein verzögertes Bild
Die größte Gruppe der Klientinnen stammt aktuell aus Afghanistan. „Aus den Erzählungen unserer Klientinnen ergibt sich ein Bild von enormer struktureller Gewalt und prekärem bis gar keinem Zugang zu Bildung”, fasst Heiss die Erzählungen über das Leben vieler Frauen in deren Herkunftsland zusammen. Zwangsehen im jungen Alter seien auch etwas, dem sie immer wieder begegne. „Was das real bedeutet, nämlich sich wiederholende Vergewaltigungen, ist vielen nicht bewusst”, betont die Hemayat-Geschäftsführerin.
Dennoch dauere es oft Jahre, bis sich Betroffene Hilfe suchen, was zu einem sehr verzögerten Abbild führe. „Wir haben aktuell zum Beispiel nur vereinzelt Menschen aus der Ukraine, weil es einfach dauert, bis sich die Menschen tatsächlich Hilfe suchen”, erklärt die Expertin. Der Schritt zur Betreuung finde bei vielen erst statt, wenn die Symptome akut und nicht mehr zu ignorieren seien – sprich, wenn es gar nicht mehr anders geht. „Das sind dann Frauen, die nicht schlafen können. Die ihren Peiniger vermeintlich in der U-Bahn sehen. Die jede Nacht schreiend aufwachen. Wo das auch die Kinder schon mitbekommen”, sagt Heiss.
Selbst geflüchtet: Aljeen Hasan wünscht sich mehr Angebote für Frauen.
Viel Zeit für Vertrauen nötig
Im ersten Schritt gehe es deshalb vor allem darum, die Lage zu stabilisieren, die Symptome zu reduzieren und einen Umgang mit ihnen zu erlernen. „Oftmals hilft es schon, den Zusammenhang herzustellen, zwischen dem, was sie erlebt haben, und wie es ihnen geht. Zu sagen, dass das eine normale Reaktion auf abnormale Erlebnisse ist und es eine Behandlung dafür gibt”, so Heiss.
Das Angebot von Hemayat umfasst neben medizinischer vor allem psychologische und psychotherapeutische Betreuung. Dolmetscher:innen stehen bei allen Betreuungsformen in mehr als zehn Sprachen zur Verfügung. „Über diese schrecklichen Erlebnisse zu sprechen, ist schon schwer genug. Deshalb ist es wichtig, dass es nicht auch noch sprachliche Barrieren gibt”, betont Heiss die Wichtigkeit von Übersetzer:innen.
Hemayat-Geschäftsführerin Cecilia Heiss: „Betreuen Spitze des Eisbergs.“
„Beeindruckend, was sie schaffen“
Bei Bedarf werden Klientinnen bei Hemayat von ausschließlich weiblichem Personal betreut. Das biete den Frauen nicht nur Unterstützung, sondern zeige ihnen auch positive Beispiele für weibliche Berufstätigkeit und Selbstbestimmung. „Es dauert dennoch lange, bis Frauen genügend Vertrauen fassen, um über erlebte Gewalt zu sprechen”, so Heiss. Das versucht man bei Hemayat ebenfalls mit Gruppenangeboten aufzubrechen. „Viele Frauen sind doch sehr isoliert. Sie da herauszuholen und auch ein bisschen miteinander zu vernetzen, kann sehr hilfreich sein”, sagt Heiss.
Ein Schwerpunkt aller Betreuungen sei auch, den Frauen ein Gefühl der Selbstermächtigung zu geben. „Wir haben zum Beispiel sehr viele Menschen, die von Deutschkursen zu uns verwiesen werden. In den Kursen werden die Menschen ständig nur auf ihre Defizite reduziert. Dabei haben es diese Frauen ohnehin schon wahnsinnig schwer”, betont die Psychologin, die sich oftmals mehr Sensibilität für die Situation dieser Frauen wünscht. „Am besten sollen sie das Kopftuch wegwerfen, die Sprache lernen und sofort zu arbeiten anfangen. Ansonsten gelten sie als integrationsunwillig. Mir wäre es ein Anliegen, dass es in der Gesellschaft viel mehr Verständnis für diese Menschen und ihre Geschichten gibt. Ich bin immer wieder beeindruckt, was sie trotz allem schaffen.“
Hemayat möchte auch mit Gruppenangeboten das Vertrauen der Frauen stärken und sie miteinander vernetzen. Ein Schwerpunkt aller Betreuungen liegt auf der Selbstermächtigung.
Druck auf Frauen und Mädchen größer
Die eigene Rolle in einer komplett neuen Umgebung zu finden, war auch für Aljeen Hasan nicht leicht. „Ich hatte plötzlich ganz neue und andere Perspektiven. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass der Druck auf Frauen und Mädchen größer ist”, so Hasan. Auch habe sie sich nicht wirklich repräsentiert gefühlt. „Viele Angebote, die sich an geflüchtete Menschen richteten, waren für Männer gedacht”, sagt sie. Sie hätte sich Vernetzungstreffen explizit für Frauen gewünscht. „Oder Sprachcafés, die nicht von Männern überladen sind“, meint Hasan. Auch eine Lebens- bzw. psychische Beratung für Frauen, die andere Bedürfnisse, Probleme und Konflikte haben als Männer, hätte sie vor allem zu Beginn hilfreich gefunden.
Seit seiner Gründung vor fast 30 Jahren baut Hemayat sein Angebot laufend aus. Dennoch werden die Kapazitäten und Ressourcen dem Bedarf nicht gerecht, so Geschäftsführerin Cecilia Heiss. Der Verein finanziert sich über Spenden und Förderungen. Für Klient:innen ist die Betreuung, unabhängig davon, ob jemand krankenversichert ist oder nicht, kostenlos. „Mittlerweile hat sich unser Angebot in einigen Communitys herumgesprochen. Da heißt es dann: Geh zu Hemayat, wenn du nicht schlafen kannst”, berichtet Heiss.
Dazu, traumatisierte Menschen und etwa auch ihre Kinder oder Angehörigen aktiv anzusprechen, komme der Verein erst gar nicht. „Wir können eigentlich nur die Spitze des Eisbergs betreuen”, gibt Heiss wehmütig zu, „das ist insofern schlimm, als sich die Menschen erst in Krisen an uns wenden. Und wir wissen, dass sie eigentlich sehr rasch behandelt werden sollten, weil das Trauma sonst chronifiziert und immer schwerer behandelbar wird.“ Der Name Hemayat stammt aus dem Persischen und Arabischen und bedeutet so viel wie Schutz und Betreuung. Das würde der Verein gerne allen bieten, die auf seine Unterstützung angewiesen sind.
Naz Küçüktekin war bei der Wiener Bezirkszeitung, dem biber Magazin, bei Profil und zuletzt beim Kurier tätig, wo sie sich im Ressort „Mehr Platz“ vor allem mit migrantischen Lebensrealitäten beschäftigte. Das tut sie nun weiterhin als freie Journalistin.
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