
In ferner Nähe
Als Wien noch Wien war. Die völkisch Nationalen argumentieren heute genauso wie damals, wenn sie die Nahen zu Fernen machen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Die Vertschechung der Stadt käme einem Kulturrückschritt gleich … Die Straßen Wiens werden durch tschechischen Pöbel unsicher gemacht.“ So heißt es am 16. Jänner 1909 im Alldeutschen Tagblatt, dem Organ der Deutschnationalen.
Die Tschechenfeindlichkeit war weit verbreitet, mit besonderer Inbrunst aber beschworen sie jene ideologischen Vorgänger des Nationalsozialismus, die auch die Idee des Arierparagraphen das erste Mal in die Welt setzten. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung von kultureller Reinheit; die Sehnsucht nach einer homogenen Bevölkerung, die bereits als irgendwann einmal vorhanden phantasiert wird. Als Wien noch Wien war. Die völkisch Nationalen und kulturellen Identitätspolitiker*innen argumentieren jetzt und haben damals genauso argumentiert. Dass die Tschechen die „ganz anderen“ sind, „kulturell zu verschieden“, „schwer bildungsmäßig integrierbar“.
Das erscheint uns heute als komisch. Das kann man doch nicht vergleichen, die Tschechen sind ja unsrige, kulturell, religiös und überhaupt. Die Beispiele von Tschechenfeindlichkeit aus 1900 beschreiben aber etwas anderes: Das Phänomen, dass auch die Nahen zu Fernen gemacht werden, wenn es kulturalistische Identitätspolitiken wollen. Das passierte konkret jetzt den Mädchen aus der Schule in Favoriten. Oder den Marktstandlern in Ottakring. Obwohl sie in Wien aufgewachsen sind, werden sie zu Fremden geredet. So spricht man über die anderen immer als Andersartige, macht Zugewanderte fremder, als sie sind, und Hiesige heimischer, als sie es je waren. Doch wer als „Ausländer“ definiert wird, ändert sich beständig.
Vor hundert Jahren waren Arbeiter*innen und ihre Kinder aus Tschechien „die Ausländer“. Besonders beklagte man sich über ihre mangelnde Anpassung, ihre Rückständigkeit, die „dreckigen“ Wohnverhältnisse und ihre Herkunft aus der Landwirtschaft („Bauerntölpel“). Als Wien auch schon Wien war.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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