ExpertInnen-Bericht: Integrationspolitik auf dem Rückzug
SOS Mitmensch hat einen ExpertInnen-Bericht über die Integrations- und Desintegrationspolitik der türkis-blauen Bundesregierung veröffentlicht. Einundzwanzig Expertinnen und Experten haben die Maßnahmen der Regierung im integrationspolitischen Feld bewertet. Von den Maßnahmen, die umgesetzt wurden, wurden fast drei Viertel als überwiegend oder gänzlich desintegrativ eingestuft.
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Pressekonferenz zum Bericht der Expertinnen und Experten
Zurückdrängen von integrativen Maßnahmen
„Die Analyse der Expertinnen und Experten zeigt ein klares Zurückdrängen von integrativen Maßnahmen durch die türkis-blaue Bundesregierung und eine deutliche Forcierung von desintegrativen Maßnahmen. Wertvolle Programme und Projekte wurden gekürzt oder eingestellt, neue Hürden beim Zugang zu Ausbildung und Arbeit eingeführt. Das vom damaligen Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz postulierte Motto ‚Integration von Anfang an’ wurde weitgehend entsorgt“, sagt Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch.
Analyse von 38 Maßnahmen
Der ExpertInnen-Bericht dokumentiert und analysiert 38 angekündigte und teilweise bereits umgesetzte Maßnahmen der (inzwischen abgesetzten) Bundesregierung im integrationspolitischen Feld. Die ExpertInnen bewerten 58 Prozent der Maßnahmen als großteils oder gänzlich desintegrativ. Nur 16 Prozent werden als integrativ bewertet, 21 Prozent werden als ambivalent eingestuft und 5 Prozent der Maßnahmen sind noch so unkonkret, dass keine Bewertung möglich war.
Grafik 1: Bewertung der Gesamtheit der 38 angekündigten oder umgesetzten Maßnahmen durch die Expertinnen und Experten
Umgesetzte Maßnahmen: Drei Viertel desintegrativ
Von den Maßnahmen, die bereits im Prozess der Umsetzung sind oder umgesetzt wurden, wurden sogar fast drei Viertel (72 Prozent) als großteils oder gänzlich desintegrativ bewertet, nur 14 Prozent wurden von den ExpertInnen als integrativ bewertet.
Grafik 2: Bewertung der 28 bereits beschlossenen und/oder umgesetzten Maßnahmen durch die Expertinnen und Experten
Zahlreiche Kürzungen
Zu den desintegrativ bewerteten Maßnahmen zählen etwa das Verbot der Lehre für Asylsuchende, die Kürzung des AMS-Budgets im Integrationsbereich, die Halbierung der Budgetmittel für Integration an Schulen, die Kürzungen und Ausschlüsse bei der Sozialhilfe, die Ablehnung integrativer Maßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens sowie die Kürzung der Förderung bei Beratungs- und Gesundheitspräventionsarbeit für Migrantinnen in der Sexarbeit. Zu den integrativ bewerteten Maßnahmen zählen etwa die Erleichterungen bei der Rot-Weiß-Rot-Karte, die Job-Börse für Asylberechtigte sowie Projektförderungen im Bereich Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen.
Sprachlehrforscher Prof. Hans-Jürgen Krumm analysiert Maßnahmen im Sprach- und Bildungsbereich
Behinderung von Integration
Sprachlehrforscher Prof. Hans-Jürgen Krumm bewertet die Kürzung der Budgetmittel für Integration sehr kritisch: „Mit der Kürzung der Budgetmittel für Integration an Schulen strafen Kanzler und Bildungsminister all das Lügen, was sie selbst in den letzten Jahren über die Notwendigkeit der Förderung von Integration gesagt haben. Sie fördern jetzt die Behinderung von Integration und man muss fragen, ob das die politische Absicht ist.“ Als desintegrativ bewertet Krumm auch die Trennung von deutschsprechenden und nichtdeutschsprechenden Kindern bei Schuleintritt: „Kinder in jungen Jahren lernen besonders gern und gut von den gleichaltrigen Kindern in ihrer Klasse, mit denen sie spielen und Kontakt haben wollen. Sperrt man lauter Kinder, die wenig Deutsch können, in eine Lerngruppe, so erschwert das das Deutschlernen“.
Andrea Eraslan-Weninger, Geschäftsführerin des Integrationshauses, analysiert Maßnahmen im Sozial- und Asylbereich
Extrem demotivierend für junge Menschen
Andrea Eraslan-Weninger, Geschäftsführerin des Integrationshauses, bewertet das Verbot der Lehre für Asylsuchende als desintegrativ und „extrem demotivierend für junge Menschen“. Auch in der Wirtschaft löse das Verbot „großes Unverständnis“ aus, so Eraslan-Weninger. Kritik übt sie auch an der Verringerung des Aufenthaltsschutzes für in Österreich geborene und aufgewachsene Personen. „Damit verlieren Menschen, die von klein auf in Österreich aufgewachsen sind, den Schutz, ihre Heimat zu behalten“, befürchtet die Sozialexpertin. Als verheerend bewertet Eraslan-Weninger den geplanten Ausschluss von Subsidiär Schutzberechtigten von der Sozialhilfe: „Dies ist im Sinne einer Verselbstständigung vollkommen widersinnig. Eine Umsetzung der aktuellen Vorschläge würde Desintegration bedeuten und die Menschen in Wohnungslosigkeit und bittere Armut treiben.“
Dipl.-Ing. Dr. Tania Berger analysiert Maßnahmen rund um das Thema Wohnen
Verschlechterung der Lebensqualität
Sozialraum- und Migrationsforscherin Dipl.-Ing. Dr. Tania Berger problematisiert die geplante Abschaffung der individuellen Unterbringung von Asylsuchenden in der Grundversorgung. Normalität stelle sich nur dann ein, wenn tatsächlich ein normales Leben geführt werden könne und dazu zähle auch eine Unterbringung in einer landestypischen Umgebung, wie sie die private Unterbringung ermöglicht, so die Wohnexpertin. In der von der Regierung geplanten Priorisierung von Wohnsachleistungen gegenüber Geldleistungen in der Sozialhilfe sieht Berger eine Subjektförderung, die wohl in erster Linie den VermieterInnen zugutekommen werde. „Die Problematik der Subjektförderdung – wiewohl sie als sinnvolle Ergänzung zur Objektförderung auch schon bisher zum Einsatz kommt - ist, dass sie möglicherweise preistreibend wirkt, weil die Haushalte über diese erhöhten Sachkosten die Miete für das Erste begleichen können, dies aber dann gleichzeitig zu einer Steigerung des allgemeinen Mietniveaus führen kann“, so Berger. Die im Rahmen der Mindestsicherung ausgezahlten Sachleistungen würden außerdem schon heute vor allem in Städten vielfach nicht den realen Wohnkosten entsprechen. Der Verlust der Wohnung und die Verschlechterung der Lebensqualität könnten die Folge dieser Maßnahme sein“, so die Leiterin des Fachbereichs Sozialraum und Migration an der Donau-Universität Krems.
Dr. Gerd Valchars analysiert Maßnahmen im Bereich Demokratie und Einbürgerung
Sozialer Ausschluss bei Einbürgerungsbestimmungen
Demokratieforscher Dr. Gerd Valchars sieht die von der Regierung beschlossene weitere Erschwerung des Zugangs zur österreichischen Staatsbürgerschaft kritisch. „Wenn einem die Möglichkeit gegeben wird, politisch mitzubestimmen, dann führt das auch dazu, dass man sich mit der Gesellschaft, dem politischen System und der Demokratie mehr auseinandersetzt. Umgekehrt kann der lange Ausschluss vom Wahlrecht einem von der Gesellschaft, in der man nicht bestimmen und die man nicht mitgestalten kann, entfernen“, so Valchars zur Verlängerung der Wartefrist für anerkannte Flüchtlinge. Als problematisch erachtet Valchars auch die von der Regierung beschlossene Anhebung der Einbürgerungsgebühren. Dadurch werde sozialen Ausschluss erzeugt. Denn bereits vor der Anhebung seien die Gebühren im internationalen Vergleich ausgesprochen hoch gewesen, um ein Vielfaches höher als etwa in Deutschland, so der Demokratieexperte.
Dr. Oliver Gruber analysiert Verschiebungen in der Integrationspolitik
Vom Kontakt mit Zugewanderten fernhalten
Integrationsforscher Dr. Oliver Gruber konstatiert einen Schwenk der Integrationspolitik von „fördern und fordern“ hin zu „fordern und kontrollieren“. Maßnahmen, wie etwa separierte „Deutschförderklassen“ würden ein Integrationsverständnis unterstreichen, das sich ausschließlich an Zugewanderte richte und die Mehrheitsgesellschaft als nicht als aktiv am Integrationsprozess beteiligt begreife; mehr noch, die Mehrheitsgesellschaft solle vom Kontakt mit Zugewanderten ferngehalten werden, so Gruber. Das Instrument der Sanktionen gewinne eine immer größere Bedeutung, gleichzeitig würden finanzielle Mittel für Integration zurückgefahren, so der Integrationsforscher.
Forderung: Rückkehr zu „Integration von Anfang an“
SOS Mitmensch nimmt den ExpertInnen-Bericht zum Anlass, um eine Rückkehr zum Motto „Integration von Anfang an“ zu fordern. Die von ExpertInnen als desintegrativ bewerteten Maßnahmen sollten überdacht und zurückgenommen werden, so die Menschenrechtsorganisation, gleichzeitig sollten Maßnahmen forciert werden, die Chancen und Perspektiven stärken.
SOS Mitmensch-Projektkoordinatorin Sonja Kittel und SOS Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak fordern Rückkehr der Regierung zu "Integration von Anfang an"
Geordnetes und sicheres Leben ermöglichen
„Ziel sollte es sein, den Menschen in Österreich das Zurechtkommen sowie ein geordnetes und sicheres Leben zu ermöglichen. Nur wenn Menschen sich sicher fühlen und die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, kann man Desintegration, prekäre Lebensumstände, fehlende Zugehörigkeit, Ausgrenzung, Abschottung und das Entstehen tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte verhindern“, betont SOS Mitmensch-Sprecher Pollak.
Dank an die Expertinnen und Experten
SOS Mitmensch bedankt sich für das Mitwirken am Bericht bei Dipl.-Ing.in Dr. in Tania Berger, Maga. Dunja Bogdanovic-Govedarica, Drin. Luzenir Caixeta, Maga. Katharina Echsel, Andrea Eraslan-Weninger MSc., Sina Farahmandnia, Ehe Ohne Grenzen, Dr. Oliver Gruber, DASin Judith Hörlsberger, Raoul Kopacka, Maga Nicola Kraml, em. Univ. Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm, Anna Larcher, Dr. Gernot Mitter, Assoz.-Profin. MMaga. Drin. MAS Regina Polak, Mag.a Maria Rösslhumer, Univ.-Profin. Sieglinde Rosenberger, Mag. Heidemarie Schrodt, Dr. Gerd Valchars, Univ.-Prof. Dr. Roland Verwiebe und Univ.Prof. Dr. Erol Yildiz.
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