Expert*innen zu humanitärer Aufnahme - Dr. Judith Kohlenberger
"Resettlement bedeutet, dass Integration tatsächlich ab dem ersten Tag starten kann." - Die promovierte Migrationsforscherin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Judith Kohlenberger arbeitet am Institut für Sozialpolitik der WU Wien zu Fluchtmigration und Integration:
„Resettlement kann Fluchtwege diversifizieren und somit auch dafür sorgen, dass weniger Menschen auf die Hilfe von Schleppern zurückgreifen müssen – vor allem vulnerable Gruppen wie ältere und chronisch kranke Menschen, Frauen und Kinder, Gewaltopfer. Gleichzeitig muss aber festgehalten werden, dass die einfache Formel „Resettlement bekämpft Schlepperkriminalität“ in dieser Form nicht wissenschaftlich belegt ist. Tatsächlich kann ein singulärer Fokus auf Resettlement problematische Rhetorik befeuern, indem eine solche Fokussierung beispielweise als Form des „australischen Modells“ (nur mehr sehr begrenzte legale Aufnahme von Geflüchteten direkt aus Herkunftsländern, dafür keine/kaum Aufnahme über Land- oder Seeweg mehr) ausgelegt wird. Es droht damit die Gefahr, dass individuelle Asylansuchen abseits von Resettlement-Programmen (die immer nur für bestimmte Kontexte, Regionen und Personengruppen in Frage kommen) noch stärker problematisiert bis kriminalisiert werden.
Kein Entweder-Oder
Flucht(weg)entscheidungen laufen in der Praxis sehr komplex ab und Migrationssteuerung in diesem Bereich ist nur sehr bedingt möglich. Resettlement darf also nicht als Alternative oder „Ersatz“ zum territorialen Asylrecht gesehen werden. Statt eines „Entweder-Oder“ gilt es eine zunehmende Komplementarität der Zugangswege (Resettlement, aber auch territoriales Asylrecht) anzustreben, um globalen Dynamiken und dem zunehmenden Phänomen der gemischten Migration gerecht zu werden. Hier bedarf es wesentlich mehr Überprüfbarkeit und Koordination.
„Die Ärmsten können sich Flucht nicht leisten“
Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass Resettlement bis zu einem gewissen Grad der ökonomischen Selektion, die mit Flucht mittels Schlepper einhergeht, entgegenwirken bzw. sie ausgleichen kann. Die Flucht über weite Distanzen ist nämlich nicht nur sehr gefährlich, sondern auch sehr teuer. Im Schnitt zahlen Menschen ein Jahreseinkommen für den Weg aus dem Nahen/Mittleren Osten nach Westeuropa (cf. Buber-Ennser et al., 2016). Das sorgt dafür, dass sich vermögende Menschen mit höherem Einkommen, meist aus der (gehobenen) Mittelschicht, die Flucht eher leisten können. Oft wird in der gesamten Familie zusammengelegt oder man verschuldet sich tief, veräußert sämtliches Eigentum inkl. des eigenen Hauses, um zumindest einem Familienmitglied – meistens dann einem (jüngeren, fitten) Mann – die Flucht finanzieren zu können. Alles in der Hoffnung, dass dieser nach erfolgreichem Asylantrag im Zielland seine Frau und Kinder über legale und damit weniger gefährliche und teure Wege nachholen kann („Familienzusammenführung“). Das bedeutet aber auch, dass sich die Ärmsten der Armen Flucht mittels Schlepper gar nicht leisten können und maximal innerhalb der Grenzen ihres Landes flüchten (Binnenflucht) oder in unmittelbare Nachbarländer, wo sie meist (dauerhaft und perspektivenlos) in großen Flüchtlingslagern untergebracht werden. Resettlement sorgt dafür, dass diese Form der wirtschaftlichen Auslese wegfällt, weil Geflüchtete nicht dafür bezahlen müssen. Gleichzeitig entgeht Schleppern damit ein Teil ihres Einkommens.
Relocation-Programm als wichtiger Beitrag
Zu trennen ist Resettlement vom Begriff der „Relocation“. Während „Resettlement“ verwendet wird, um die Neuansiedlung von Drittstaatsangehörigen in der EU/einem Mitgliedsland zu beschreiben, bezieht sich „Relocation“ auf die Umsiedlung von Drittstaatsangehörigen aus einem EU-Mitgliedstaat in ein anderes. Letzteres könnte mehr Argumentationsspielraum mit der österreichischen Bundesregierung bieten, da es sich bei Relocation i.d.R. um bereits (in einem anderen EU-Land) asylberechtigte Menschen handelt. Ein österreichisches Relocation-Kontingent wäre ein wichtiger Beitrag zur europäischen Solidarität und könnte dafür sorgen, stark betroffene EU-Mitgliedstaaten mit Außengrenzen, v.a. Griechenland und Italien, zu entlasten und damit innereuropäischen Spannungen vorzubeugen – wie es auch im EU-Migrationspakt vorgesehen ist (Stichwort „Verteilung“). Dabei würde man im Grunde einer sich abzeichnenden politischen Lösung auf europäischer Ebene nur vorgreifen.
„Auswahl anhand klar festgelegter Kriterien“
Ein wesentlicher Vorteil sowohl von Resettlement als auch Relocation ist die Form der kontrollierten und geordneten Aufnahme von Geflüchteten, die dadurch möglich ist. Im Gegensatz zum territorialen Asylrecht, für welches Schutzsuchende „unkontrolliert“ die grüne Grenze passieren und sich selbst bei der nächsten Polizeibehörde melden müssen, um einen Asylantrag zu stellen, steht beim Resettlement die Identifikation und Registrierung (und Auswahl nach Vulnerabilitätskriterien) an erster Stelle. Über Resettlement aufgenommene Menschen können vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an genau nachverfolgt und begleitet werden. Anstelle der oben ausgeführten „ökonomischen Selektion“ steht eine Auswahl anhand klar festgelegter Kriterien, z.B. nach Vulnerabilität, Familienzusammenführung, bestehenden Netzen im Aufnahmeland, o.ä.
Integration ab Tag 1
Nicht zuletzt bedeutet Resettlement auch, dass Integration tatsächlich „ab Tag 1“ starten kann, weil aufgenommene Menschen i.d.R. sofort asylberechtigt sind und/oder ihren Bescheid in einem beschleunigten Verfahren erhalten. Somit wird keine wertvolle Zeit in (langen) Asylverfahren verloren, wodurch nachweislich Humankapital und Motivation erodieren und psychische Belastungen verstärkt werden. Auch die engmaschige Integrationsbegleitung, vor allem von geflüchteten Minderjährigen, ist dadurch wesentlich einfacher und unmittelbarer.
4.450 Menschen pro Jahr
Wie könnte ein konkretes Resettlement-Kontingent für Österreich aussehen? Österreich könnte dem Vorschlag der unabhängigen „Fachkommission für Fluchtursachenforschung“, die von der Deutschen Bundesregierung eingesetzt wurde (in Österreich fehlt ein solches Expert*Innengremium bis dato leider), folgen, welche eine jährliche Resettlement-Quote von 0,05% der Gesamtbevölkerung vorschlägt (zusätzlich zum weiterhin gültigen territorialen Asylrecht). Dieser sollen sich andere „willige“ Staaten, darunter Frankreich oder skandinavische Länder, anschließen, so die Kommission. Konkret würde das für Österreich eine Aufnahme von etwa 4.450 Menschen pro Jahr über legale Wege bedeuten. Zusätzlich zu den in Österreich gestellten Anträgen über den Landweg könnten über diese Resettlement-Quote besonders gefährdete Geflüchtete, darunter Frauen, Kinder und Opfer sexualisierter Gewalt, direkt aus humanitärer Notlage gerettet werden. Nicht zuletzt in Folge der Klimakrise und der sich weltweit verschärfenden Sicherheitslage ist mit weiteren Fluchtbewegungen zu rechnen. Denn die letzten sechs Jahre haben gezeigt: Mit Abschottung und Abschreckung wird die sogenannte „Flüchtlingsfrage“ nicht gelöst, sondern höchstens kurzfristig zeitlich und örtlich verlagert, und langfristig damit immer größer und drängender. Resettlement und Relocation könnten einen mehrheitsfähigen Lösungsbeitrag darstellen.“
SOS Mitmensch hat gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen eine große Kampagne für die Wiederaufnahme von humanitären Aufnahmeprogrammen für besonders schutzbedürftige Menschen gestartet. Wir wollen die humanitäre Tradition Österreichs wiederbeleben und Menschenleben retten!
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