
Lasche Ankläger
Warum braucht es erst einen Videobeweis, damit ordentlich gegen PolizistInnen ermittelt wird? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne: Philipp Sonderegger beobachtet die Exekutive
Nehmen wir den Fall des Tschetschenen, der in einem Spiellokal von Polizisten geschlagen wurde. Er erfüllt auf geradezu unangenehme Weise alle Klischees einer Strafjustiz, die nicht gegen die Exekutive vorgehen will: Zwei Polizisten schlagen den Mann wiederholt, sechs weitere Polizisten sehen dem Treiben zu. Anzeige erstattet das Krankenhaus, das die Verletzungen des Mannes versorgt. Die Staatsanwaltschaft Wien lässt unverzüglich ein Jahr verstreichen bevor sie die Polizisten befragt. Als die Beamten den Vorfall abstreiten, stellt sie das Verfahren gegen diese ein und zeigt den Tatendrang, den sie anfänglich vermissen ließ: Mit einer Verleumdungsklage gegen den Tschetschenen. So stellt dieser selbst die notwendigen Erhebungen an und schaffte ein Video vom Vorfall aus dem Spiellokal herbei. Die Wiener Polizei reagiert rasch und suspendiert die Prügelpolizisten mitsamt ihrem Schweigekartell. Die Staatsanwaltschaft will jetzt einmal prüfen, wer als Täter in Frage kommt und ermittelt „vorerst“ gegen unbekannt. Eine Ausdruck des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung ist von der Justiz bislang nicht zu vernehmen. Misshandlungsvorwürfe sind unverzüglich und gründlich zu prüfen. Im entsprechenden Erlass werden Tatortarbeit und Spurensicherung als „unaufschiebbare Beweissicherung“ angeführt. Besonderes Augenmerk sei auf die Ausforschung von Zeugen und die Auswertung von Bildmaterial zu legen. Herrin des Verfahrens ist die Staatsanwaltschaft. Effektive Ermittlungen brauchen nicht nur unabhängige ErmittlerInnen und eine zivile Aufsicht sondern auch gründliche Staatsanwaltschaften. Die Defizite sind nicht nur anekdotisch, wie die ALES-Studie von 2019 zeigt: Mehr als die Hälfte der Misshandlungsvorwürfe wird eingestellt, weil der Tatverdacht nicht bewiesen werden kann. Grund genug, möchte man meinen, alle verfügbaren Beweise zu ermitteln. Derartige Nachforschungen – etwa Tatortermittlungen – ordnen die StaatsanwältInnen aber lediglich in einem von vier Fällen an.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at.
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