Lasst uns laut werden
Armutsbetroffene werden beschämt – vom Bundeskanzler-Video bis hin zu Medienbeiträgen, wie denn noch mehr beim Kochen gespart werden könne. Dabei sollte eigentlich gelten: Armut bekämpfen, nicht die Armutsbetroffenen.
Gastkommentar: Daniela Brodesser.
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Menschenwürdig leben und behandelt werden: Eigentlich einer der fundamentalsten Grundsätze in einer Gesellschaft in einem der reichsten Länder dieser Erde. Eigentlich. Denn allzu gern vergessen wir dabei, wie mit jenen umgegangen wird, die am unteren Ende der Einkommensskala leben.
Das Burgervideo unseres Bundeskanzlers ist eine Ausnahme. Hier wurde wahrgenommen, wie der Blick auf Armutsbetroffene ist, wie über sie geredet wird. Die Aussage, kein Kind müsse hungern, denn schließlich gäbe es doch Burger um 1,70 Euro, eine warme Mahlzeit also, ist nur eine von vielen in den letzten Jahren. Eine, die zwar für viel Aufsehen gesorgt hat und Empörung, aber sich nahtlos einreiht in die zahllosen Abwertungen und Pauschalisierungen. Der Nachsatz der ÖVP einige Tage später, wenn Kinder hungrig zur Schule kommen, müsse man das Jugendamt informieren, damit man einen Blick darauf werfen kann, was da schiefläuft, war für mich wesentlich heftiger. Er spült unverblümt an die Oberfläche, wie konservative Politiker:innen über uns denken: Nicht strukturelle Armut ist schuld an finanziellem Mangel, sondern die Unfähigkeit der Menschen, mit Geld umzugehen. Genau darauf zielt auch das Narrativ der „Eigenverantwortung“ ab. Jene, die es nicht schaffen, auch in der letzten Woche des Monats genug Geld zu haben, um einkaufen oder unerwartete Zahlungen stemmen zu können, sind doch nur selbst schuld. Müssten doch nur besser haushalten. Bisschen mehr sparen, Geld nicht für Sinnloses ausgeben. Oder?
Im Regierungsprogramm ist von Armutsbekämpfung die Rede. Davon sei momentan wenig zu sehen, meint Autorin und Armutsaktivistin Daniela Brodesser.
Umdenken gesucht
Armut ist strukturell bedingt. Sie nährt sich durch Bildungsungleichheit, durch fehlende Vereinbarkeit, mangelnde Infrastruktur, kaum noch leistbares Wohnen sowie die Tatsache, dass Betreuung, Care-Arbeit und Pflege noch immer vorwiegend von Frauen, und das hauptsächlich unbezahlt, geleistet werden. Armut ist kein individuelles Versagen, doch genau das will man uns seit Jahren einreden. Wer arm ist, liegt in der sozialen Hängematte, ist also nur zu faul oder zu bequem, um sich eine Arbeit zu suchen. Wer arm ist, weil chronisch krank oder pflegend oder betreuend, ist immer nur eine Ausnahme. Ein Härtefall. So wirds uns verkauft. Dabei kennt man die Zahlen, weiß, wer höchst armutsgefährdet ist, weiß um die Gründe, die Ursachen.
Eigentlich sollte man darauf vertrauen, dass Regierungen immer das Beste für die Gesellschaft wollen. Doch dann betrachten wir die Realität, in der rechte Politiker:innen noch mehr auf Spaltung und Fremdenhass setzen und eine konservative Regierungspartei alles daransetzt, das Narrativ der selbst verschuldeten Armen hochzuhalten. Und das in Zeiten von Teuerungen, wie sie die meisten von uns noch nicht erlebt haben.
Selbst ich war so naiv, zu Beginn der Inflation an ein Umdenken zu glauben. Daran, dass nun Armutsbekämpfung an oberster Stelle der Prioritäten stünde. Jene Armutsbekämpfung, die sich diese Regierung eigentlich in ihr Programm geschrieben hat. Halbierung bis zum Ende der Legislaturperiode. So stehts drin.
Nun wird uns gern erzählt, wie viel man bereits gegen Armut unternommen habe. Von Einmalzahlungen bis zu einem 60 Euro-Bonus (für Kinder bis Ende 2024, für Erwachsene wohlgemerkt nur bis Ende 2023). Von Unterstützung für Sozialmärkte bis zum Wohnschirm. Alles wichtig, doch all diese Maßnahmen sind keine Armutsbekämpfung. Sie sind eine minimale Linderung der Symptome, ändern aber nichts an den Ursachen.
Armutsbetroffene von morgen
Nachhaltige Armutsbekämpfung muss anders aussehen. Von Chancengleichheit für Kinder, für alle Kinder, egal, wie der ökonomische Hintergrund, über eine armutsfeste Mindestsicherung bis hin zu der Tatsache, dass weder eine Trennung noch eine Erkrankung in die Armut führen dürfen. Das wäre menschenwürdig. Und leistbar. Denn: Je mehr Menschen wir über die Armutsschwelle heben, desto weniger Folgekosten entstehen. Kinder, die jetzt in Armut aufwachsen, sind die Armutsbetroffenen von morgen. Sie sind also jene, die dann entweder in prekären Jobs arbeiten oder auf Sozialhilfe angewiesen sind.
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ARMUT KOMMT DURCH:
TEURE MIETEN, BILDUNGSUNGLEICHHEIT, UNBEZAHLTE CARE-ARBEIT
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Neben strukturellen Maßnahmen braucht es auch ein Ende der Beschämung. Als Armutsbetroffene zieht man sich sonst zurück und wird unsichtbar. Denn du erzählst deinen Nachbarn nicht, warum du dir gemeinsame Unternehmungen nicht mehr leisten kannst. Du erzählst auch nicht, dass sich ein Vollzeitjob nicht ausgeht, weil du den Spagat zwischen Arbeitszeiten und Kinderbetreuung nicht schaffst. Denn „die Cousine meiner Freundin schafft das auch locker“. Du willst dich nicht zum hundertsten Mal rechtfertigen. In der Zeitung liest du, dass Armut eigentlich nicht existent sei und wir nur jammern würden. Du scrollst in den sozialen Medien, aber irgendwann erträgst du die Kommentare darüber, wie man noch billiger kochen kann, nicht mehr. Und ziehst dich auch hier zurück. Keine Kraft dafür. Irgendwas wird schon dran sein, an den Aussagen. Sonst würden doch viele dagegen laut werden, oder?
Wir sind zu leise
Es wäre ein Anfang, würden wir jenen Menschen, die abwerten, die beschämen, die pauschalisieren, entschieden entgegentreten. Doch dazu braucht es vor allem Nichtbetroffene. Ihr, mit sozialen Kontakten, mit einer gewissen Sicherheit im Leben, mit Rückhalt. Euch braucht es. Steht auf, wenn ihr hört, man sei doch selbst schuld, andere würden schließlich dafür arbeiten, damit wir in der sozialen Hängematte liegen dürfen. Steht auf und werdet laut gegen diese Vorurteile. Werdet laut, damit die Narrative, die uns seit Jahren begleiten, endlich entkräftet werden. Wir sind leise. Zu leise. Weil uns die jahrelange Beschämung unsicher gemacht hat, weil sie uns sogar dazu gebracht hat, selbst an uns zu zweifeln. Genau das möchten gewisse Menschen mit ihren Narrativen bewirken. Genau das haben sie zu lange geschafft. Zeit, es gemeinsam zu ändern. Denn: Niemand wird mit dem Lebensziel Armut geboren.
Es wäre unsere Aufgabe als Gesellschaft, jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht genug Einkommen haben, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Ohne Vorurteile, ohne Abwertungen, ohne pauschale Vorbehalte. Stehen wir gemeinsam auf.
Daniela Brodesser ist Autorin („Armut“, Kremayr & Scheriau, 2023) und Armutsaktivistin. Sie sensibilisiert als ehemals Armutsbetroffene in Workshops und Vorträgen für das Thema.
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