
Männer glauben, sie haben mehr zu sagen
Anfang Mai kamen in ganz Europa 17.000 Menschen zusammen, um über Themen zu diskutieren, die ihnen unter den Nägeln brennen. Am Projekt "Europa spricht" war auch Der Standard beteiligt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Anna Karrer.
Es herrscht eine Zeit von Extremen“, sagt Zsolt Wilhelm, Redakteur der Tageszeitung Der Standard, im Gespräch. Er ortet nicht nur „extreme Bilder“, sondern glaubt zudem: „Wie Politiker heute miteinander reden, wäre vor zehn Jahre nicht vorstellbar gewesen.“ Dass die Hemmschwelle sinkt, sei auch und besonders gut in den sozialen Medien erkennbar. Deshalb, so Wilhelm, müssen wir als Medium „uns und unsere Arbeit kritisch hinterfragen und überlegen, wie wir eine angemessene Streitkultur schaffen können. Das Moderieren von Foren ist dafür ein gutes Beispiel. Wir investieren viel in die Debattenkultur, ‚Europa spricht’ war dafür ein gutes Projekt.“
Raus aus der eigenen Blase
Während der Politik gerne vorgeworfen wird, den Kontakt zu den BürgerInnen verloren zu haben, lautet die Kritik an den Medien, dass sie sich zu sehr in ihrer eigenen Blase bewegen. Was liegt also näher für eine Zeitung, rauszugehen und in einer Aktion unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, diskutieren zu lassen und dann darüber zu berichten. „Europa spricht“ ist so eine Aktion. Am 11. Mai fanden mehr als 17.000 Menschen europaweit zum Meinungsaustausch zusammen. Neben mehr als einem Dutzend europäischer Zeitungen nahm auch Der Standard am Projekt teil. Erklärtes Ziel ist es, die Meinungsvielfalt in Europa zu stärken und den Austausch zu fördern.
Hintergrund des Projekts ist freilich auch eine grundsätzlich gereizte Stimmung in Europa, Stichwort Brexit, Fake News, Shit Storms und die Stimmenzugewinne rechtspopulistischer Parteien. Auf die Frage, ob Menschen mit unterschiedlichen Meinungen überhaupt noch reden wollen und wir in Europa noch über so etwas wie eine Streitkultur verfügen, zeigt sich Projektleiter Wilhelm optimistisch. „Ich glaube, dass Leute noch fähig sind zu diskutieren und sie nicht einfach den Kopf in den Sand stecken.“ Aber auch die Medien selbst seien gefragt, auf die Entwicklungen zu reagieren. Also hatte bereits 2017 die Online- Redaktion der Zeit in Deutschland gemeinsam mit internationalen Medien „My Country Talks“ gestartet. Man wollte BürgerInnen ein Forum geben, um konstruktiv über Politik und Leben zu diskutieren. Zwei Jahre später expandierte man, nun sprach ganz Europa miteinander. Mit von der Partie waren nun u.a. die Financial Times, La Republicca, arte.tv und eben Der Standard. Zsolt Wilhelm betont, dass es jedem Medium freigestanden sei, teilzunehmen, auch andere österreichische Medien hätten sich bewerben können. „Wir wollten das Projekt allein machen, weil es leichter ist, in einem kleinen Rahmen so ein Projekt zu gestalten. Je mehr Medien, desto mehr Aufwand.“
Sieben aktuelle Frage
Das Prinzip von „Europa spricht“ ist einfach: Jede volljährige Person konnte sich europaweit online anmelden, Englischkenntnisse waren nicht von Nachteil. Danach folgten sieben brisante Fragen, die die BewerberInnen mit Ja oder Nein beantworten mussten. U.a.: Würden Sie Ihren Reisepass gegen einen europäischen Pass tauschen? Sollten reichere europäische Länder ärmere europäische Länder unterstützen? Gibt es zu viele ImmigrantInnen in Europa? Sollten europäische Länder die Steuern für Treibstoff erhöhen, um das Klima zu schützen? Ein Algorithmus würfelte KandidatInnen zusammen, die konträre Ansichten vertreten und in einem Nachbarland leben. Am 11. Mai begegnete man sich dann. Dann traf zum Beispiel der Ingenieur Jorge aus Stuttgart auf den Mechaniker Mario aus Vorarlberg. Dabei konnte es sehr grundsätzlich werden. Der eine glaubt an die soziale Marktwirtschaft, der andere steht einem System, das „nur über Geld Anreize“ schafft, skeptisch gegenüber. Migration, Flucht und Armut fehlten als Thema wohl kaum bei einer der zahlreichen Begegnungen. Das Gespräch zwischen Jorge und Mario ist übrigens, so wie auch andere, online im Standard nachzulesen.
Für Wilhelm war das Ziel des Projektes, Menschen abseits medialer Debatten zusammenzuführen. „Es geht darum, Menschen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Ansichten an einen Tisch zu setzen und ihnen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe in persönlichen Gesprächen und außerhalb der eigenen Meinungsblase zu diskutieren.“ Der Gesprächsrahmen war völlig offen, um politische Stimmungsmache ging es dabei nicht, betont Wilhelm. „Wir möchten die Meinungsvielfalt stärken und wir haben auch sehr viele Meinungen in der Community. Deshalb passt das Projekt gut zu uns.“
Partizipation über digitale Tools
Welche Rolle aber kommt den Medien bei der vielzitierten partizipativen Demokratie zu? Wilhelm sieht kritische Medien gefragt: „Sie spielen eine wesentliche Rolle in Demokratien. Es ist wichtig, kritisch zu hinterfragen, auch größere Zusammenhänge zu erklären. Dabei sprechen wir nicht von Leserbindung, sondern von unserem demokratischen Auftrag.“ Digitale Tools wie Foren oder soziale Medien seien dafür wichtige Hilfsmittel. „Solange man ein moderiertes Forum betreibt, fördert man den Diskurs zwischen LeserInnen und leistet somit einen positiven Beitrag. Schwierig wird es, wenn Tools unmoderiert sind, wie zum Beispiel soziale Medien wie Twitter und Instagram.“ Denn das Werkzeug sei per se ja neutral, doch wer es benützt, müsse sich der Wirkung bewusst sein. Deshalb investiere der Standard einiges in die Forenbetreuung. Mehr als ein Dutzend BetreuerInnen seien am Werk.
Querschnitt schwer zu erreichen
Nun bildet die lachsfarbene Tageszeitung als Qualitätsmedium eher nicht den gesamten Querschnitt der österreichischen Bevölkerung ab. Das beurteilt auch Wilhelm realistisch: „Uns ist bewusst, dass eine Zeitung, die ein Projekt wie ‚Europa spricht’ bewirbt, vor allem die eigenen LeserInnen anspricht. Jedoch haben wir die sozialen Medien genutzt, um Zielgruppen zu erreichen, die ansonsten den Standard nicht lesen. Eine repräsentative Mischung an Leuten zu erreichen ist sehr schwer, weil wir ja nicht aktiv nach Menschen suchen, sondern sich jeder Interessierte anmelden kann.“ Dennoch habe man etwa bei der Aktion „Österreich spricht“ die unterschiedlichsten Hintergründe versammeln können, von der Lehrerin über den Arbeiter bis hin zu Pensionisten. „Aber auch hier waren es mehrheitlich Männer, die teilgenommen haben“, so Wilhelm. Damals hatten fast 2.800 Menschen aus Österreich teilgenommen, mehr als zwei Drittel davon waren männlich. Das Durchschnittsalter betrug 40 Jahre. Den hohen Anteil an Männern erklärt sich Wilhelm so: „Bei vielen Onlinemedien und Foren kommentieren mehrheitlich Männer. Warum das so ist, weiß ich nicht, ich bin kein Soziologe. Aber ich glaube, dass Männer vielleicht das Gefühl haben, dass sie mehr zu sagen haben und Frauen zurückhaltender sind. Wir haben versucht, gezielt Frauen anzusprechen, das hat aber nicht so gut funktioniert. Es scheint so, als wären Männer einfach redefreudiger.“
Die Frage, ob sich die Erwartungen an das Projekt „Europa spricht“ erfüllt hätten, bejaht Wilhelm entschieden. Im Europavergleich sei die Zahl der österreichischen TeilnehmerInnen sogar überproportional hoch gewesen. „Das Interesse an einem europaübergreifenden Meinungsaustausch in Österreich ist definitiv gegeben.“
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