„Mein erster Gedanke war: Ich komme wieder!“
Brigitte Holzinger ist Mitbegründerin von „SOS Balkanroute“, einer Initiative, die sich um Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina kümmert. Ein Gespräch über die Entstehung der Hilfsinitiative, die aktuelle Lage und die Versorgung der Flüchtlinge in Zeiten von Corona. Für ihr Engagement erhielt „SOS Balkanroute“ dieses Jahr den Ute-Bock-Preis für Zivilcourage. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Muhamed Beganovic
Wie sind Sie auf die Problematik in Bosnien und Herzegowina aufmerksam geworden und was hat Sie motiviert aktiv zu werden?
Ich habe im Juni 2015 mit der Flüchtlingshilfe in Österreich begonnen. Da habe ich unbegleitete Minderjährige als Patenkinder aufgenommen. 2019 kam dann die Zeit, wo sie alle halbwegs versorgt waren und es nur mehr darum ging den Asylbescheid abzuwarten. Zeitgleich entdeckte ich entsetzliche Bilder auf Facebook, die der Flüchtlingshelfer Dirk Planert aus dem inoffiziellen Camp Vučjak in Bosnien gepostet hatte. Ich dachte mir dann, dass es doch nicht sein kann, dass dort solch gravierende Zustände herrschen. Der Ort ist ja auch nicht weit von unserer Grenze entfernt. Daraufhin habe ich Dirk angeschrieben und eine Antwort bekommen. Gemeinsam mit Petar Rosandić (Kid Pex, Anm.) und weiteren Helfern sind wir dann im September 2019 mit einem Pick-up, einem VW-Bus und einem Lkw, die jeweils mit Sachspenden (Schlafsäcke, medizinische Güter und Gewand) beladen waren, vor Ort gefahren und haben sie verteilt. Ich hatte Dirk einfach gefragt, was gebraucht wird und das haben wir dann gezielt gesammelt und nach Bosnien gebracht.
Was war Ihre Reaktion, als Sie das erste Mal Vučjak betreten haben?
Mein erster Gedanke war: Ich komme wieder! Ich war im Grunde auf alles vorbereitet, da mir die Bilder schon bekannt waren. Die Lage war natürlich verheerend. Was mich aber am meisten beeindruckt hat, war die Herzlichkeit, mit der uns die Flüchtlinge trotz ihrer Not empfangen haben. Da habe ich mir und ihnen versprochen, dass ich mein Möglichstes tun werde, um diesen Menschen zu helfen. Ich weiß, dass ich sie nicht retten kann, aber ich kann ihnen meine Stimme geben und unterstützen so gut ich kann. Mittlerweile konnten wir sehr viele Sachspenden sammeln und sind schon acht Mal nach Bosnien gefahren.
Durch die Schließung der Grenzen kann die SOS-Balkanroute keine Versorgungsfahrten nach Bosnien mehr organisieren. Worum kümmert sich die Initiative derzeit?
Wir sammeln Geldspenden, die wir an Helferinnen vor Ort überweisen. Sie kaufen den Flüchtlingen damit Nahrungsmittel. Seit der Schließung der Grenzen konnten wir etwa 15.000 Euro überweisen (Stand Ende April; Anm.). Wir haben in Velika Kladuša eine Kooperation mit einem Supermarkt, der gegen Bons den Flüchtlingen Nahrungsmitteln gibt. Das funktioniert sehr gut. Zur Zeit werden etwa 300 Menschen täglich versorgt. In Bihać haben wir einen Lagerraum, in dem wir unsere Großeinkäufe bunkern. Die Leute können sich dort dann Essen holen. Wir organisieren aber nicht nur Nahrungsmittel. Uns steht auch ein Arzt zur Seite, der per Ferndiagnose versucht, möglichst gut zu beraten. Er sagt uns dann, welche Medikamente wir besorgen sollen, um den Flüchtlingen bei kleineren Sachen wie Krätze zu helfen.
Wie ist die Situation in Bosnien aktuell?
Die Lage hat sich verschlechtert. In den offiziellen Camps darf aufgrund der Corona-Quarantäne niemand mehr rein oder raus. Sie verzweifeln. Da bauen sich enorme Spannungen auf. Es sind ja auch verschiedene Nationen auf engstem Raum eingesperrt und die können nicht alle gut miteinander umgehen. Wenn man eine Menge Österreicher in einem Raum einsperrt, dann passiert dasselbe, finde ich. Auch außerhalb der Camps ist die Lage schlimm. Wenn sich die Lage nicht bessert, bzw. wenn die Regierung vor Ort in den nächsten Wochen und Monaten nichts unternimmt, können wir sicher sein, dass die Flüchtlinge ab dem Sommer wieder versuchen werden, weiterzuziehen.
Österreich weigert sich nach wie vor, Flüchtlinge aufzunehmen. Wie müsste das Land Ihrer Meinung nach reagieren?
Jetzt könnte sich Österreich noch aussuchen, wer aufgenommen werden soll – zum Beispiel Familien oder Minderjährige. In sechs Monaten bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es ist sicher einfacher, mit der Situation fertig zu werden, indem man gezielt Leute aufnimmt, als wenn alle plötzlich herkommen.
Flüchtlinge bezeichnen den Versuch europäischen Boden zu erreichen auch gerne als „The Game“. Spielen sie das Spiel trotz Corona?
Sie versuchen es nach wie vor. Wir hören immer mal wieder, dass es manche schaffen und das beflügelt natürlich die anderen, es wieder zu wagen. Wir raten jedem ab momentan den Versuch zu starten. Dazu muss ich auch sagen, dass uns täglich Hilfeschreie von Flüchtlingen erreichen, die beim Versuch die Grenzen zu überqueren, verletzt wurden. Es werden ihnen nach wie vor Handys, Schuhe, Rücksäcke und manchmal Gewand abgenommen. Das wird dann verbrannt, bevor sie wieder nach Bosnien zurückgebracht werden.
Haben Sie das Gefühl, dass aufgrund der miserablen Lage in Griechenland auf die Flüchtlinge in Bosnien vergessen wird?
Die Bilder, die wir aus Griechenland bekommen sind katastrophal. Im Gegensatz zu Bosnien, wo es separate und menschenwürdige Camps für Familien mit Kindern gibt, sind in Griechenland alle auf engem Raum zusammengepfercht. Es verdient sicher die mediale Aufmerksamkeit, die es bekommt. Kinder haben für mich höchste Priorität.
In Bosnien und Herzegowina war die öffentliche Meinung über die Flüchtlinge und ihren Helfern schon vor der Corona-Pandemie sehr negativ. Zehida und Zemira, zwei der lokalen Helferinnen der SOS Balkanroute, haben über Anfeindungen berichtet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ja, diese Anfeindungen gibt es. Soetwas habe ich auch hier in Österreich vor kurzem erlebt. Eine anonyme Person hat mich bei etlichen Einrichtungen wie der Volkshilfe und sogar beim Bürgermeister von Kremsmünster angeprangert. Ich habe Anfeindungen davor auch schon mal erlebt aber nicht in diesem Ausmaß.
Lange bevor sie Flüchtlingshelferin wurden, waren sie eine „glühende FPÖ-Anhängerin“, wie sie in Ihrem Buch ‚Photismos’ schreiben. Was hat Sie zum Umdenken bewegt?
Dafür hat es gereicht, die Menschen, also die Flüchtlinge, persönlich kennenzulernen. Meine Schwiegermutter hat damals einen afghanischen Minderjährigen als Patensohn aufgenommen. Das hat mich motiviert, es ihr gleich zu tun. „Das sind ja Kinder, die können nichts dafür“, dachte ich mir damals und habe auch ein Patenkind aufgenommen. Innerhalb von zwei Monaten wurden es 30. Ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass sie die gleichen Probleme haben wie unsere Kinder auch. Mein damaliges Denken war falsch, da es so stark von dem medial und politisch aufgesetzten Bild eines ‚muslimischen Mannes’ geprägt war. Da ging es darum, dass es keine Frauenrechte gibt, und so weiter. Dieses Bild ist mir aber in meiner Arbeit in den letzten fünf Jahren absolut nicht begegnet. Ich kenne da weitaus frauenfeindlichere autochthone Österreicher.
Muhamed Beganović, 32, arbeitet als freier Autor und Redakteur und schrieb u.a. für die Zeitschrift „Das Biber“ und die „Wiener Zeitung“.
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