Meine Zukunft in Österreich - Raghad: "Meine Mutter ist stärker als zehn Männer"
Auf die Frauen in ihrer Familie ist Raghad besonders stolz. Nach der Matura will sie wie ihre Großmutter, die sie in Syrien verlassen musste, Ärztin werden, um anderen Menschen zu helfen. Die 16-Jährige, die vor vier Jahren nach Österreich flüchtete, besucht heute die HLW in Graz.
Redaktion: Marlene Radl, Foto: Lena Prehal
„Es ist immer stressig mit vielen Geschwistern. Wir streiten oft, sei es wegen der Schminke, die ich mit meiner älteren Schwester teile, oder wenn mich mein kleiner, nerviger Bruder bei den Haaren zieht, weil er Aufmerksamkeit braucht. Aber wir haben schon viel gemeinsam durchgestanden und wenn es darauf ankommt, halten wir zusammen. Meine Mutter ist mit uns Kindern allein von Jordanien nach Österreich geflüchtet, wo mein Vater schon ein Jahr lang ohne uns lebte. Bei unserer Flucht war ich zwölf Jahre alt und damit die zweitälteste von uns sechs Kindern.
Das erste Boot kippte am offenen Meer um
Wir sind zuerst in die Türkei geflogen und dann mit einem Bus neun Stunden lang zum Meer gefahren. Dort wartete ein einziges kleines Boot und mehr als 100 Leute wollten damit fahren. Wir haben uns alle gestritten, wer zuerst ins Boot darf. Schließlich sind mit dem Boot nur Menschen aus dem Irak und dem Iran gefahren. Wir anderen mussten enttäuscht auf ein weiteres warten. Ein paar Stunden später haben wir erfahren, dass eine große Welle das erste Boot am offenen Meer umgekippt hat. Alle Menschen darin sind ins Wasser gefallen und gestorben. Darunter viele Kinder, die wir ja gerade noch darum beneidet hatten, dass sie einen Platz in diesem Boot ergatterten. Das Gefühl, das ich dann hatte, kann ich nicht beschreiben.
Nach einer langen Nacht kam am nächsten Morgen ein zweites Boot, mit dem wir in Richtung Griechenland aufgebrochen sind. Wir Kinder sind in der Mitte des Bootes gesessen und ich habe mit dem Koran laut für uns alle gebetet, dass unser Boot nicht auch kippt. Nach zwei Stunden und vierzig Minuten Fahrt sind wir endlich in Griechenland angekommen.
Mit dieser Überfahrt war unsere Flucht aber noch lange nicht vorbei. Es wurde noch öfter brenzlig. Zum Beispiel als mein kleiner Bruder krank wurde und medizinische Hilfe brauchte. Oder an der Grenze zu Serbien, als wir stundenlang durch einen gefährlichen Wald gehen mussten, in dem wir beinahe bestohlen worden wären. Im Wald hat meine Mama gemeinsam mit anderen geflüchteten Männern einen Kreis um uns Kinder gemacht, um uns zu beschützen. Während all dem habe ich gemerkt: Meine Mutter ist stärker als zehn Männer.
Langersehntes Wiedersehen
Als wir endlich in Österreich ankamen, war mein Vater nicht am Bahnhof. Er wartete versehentlich an einem falschen Grenzübergang. Meine Mutter war stinksauer. Sie hat ihn angerufen und gefragt: 'Spinnst du? Wir sind bis nach Österreich gekommen und trotzdem müssen wir jetzt auf dich warten?'
Sobald wir ihn gesehen haben, hat sie ihm natürlich verziehen. Wir sind uns alle nur noch in die Arme gefallen."
In der neunteiligen Porträtreihe "Meine Zukunft in Österreich" holt SOS Mitmensch junge Frauen, die nach Österreich flüchten mussten, vor den Vorhang. Ihre Geschichten geben Einblick in die Herausforderungen, die sie meistern müssen und verraten, was ihnen beim Ankommen in einem neuen Land geholfen hat. Damit will SOS Mitmensch die Perspektiven geflüchteter Mädchen und junger Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung stärken. Infos und Kontakte zur freiwilligen Geflüchtetenhilfe finden Sie hier.
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