
Mütter, applaudiert euch!
Die Gleichstellung von Frauen und Männern hört oft spätestens dort auf, wo das Muttersein beginnt. Dabei kann sich genau hier eine große feministische Kraft entfalten. Was fehlt sind die richtigen Rahmenbedingungen.
Essay: Sonja Kittel, Illustration: Eva Vasari
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
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Ich sitze in einem Sesselkreis in der Aula der Schule. Acht Lehrerinnen, die Direktorin und 14 Mütter applaudieren dem einzigen Vater in der Runde. Er hat sich als Elternvertreter aufstellen lassen, so wie all die Mütter, die hier sitzen. Ich blicke mich um und frage mich, warum wir uns nicht selbst applaudieren? Warum verdient es besondere Anerkennung, wenn ein Vater diese Position übernimmt, und spüren die anderen Frauen auch, dass hier gerade etwas falsch läuft?
Die schwedische Sozialwissenschaftlerin Lisbeth Bekkengen nennt es die „Paradoxie der Anerkennung“, wenn Männer Beifall für ihren Beitrag bekommen, während bei Frauen dieselbe Leistung als selbstverständlich gilt. Obwohl es keinen objektivierbaren Grund gibt, dankbar zu sein, heben wir es als etwas Besonderes hervor. Gleichzeitig wird klar, dass die vermeintlich geteilte Verantwortung zwischen Müttern und Vätern bei sämtlichen auf Kinder bezogenen Aufgaben nur ein Mythos ist.
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WARUM VERDIENT ES BESONDERE ANERKENNUNG,
WENN EIN VATER DIE POSITION ÜBERNIMMT?
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Die „Top Mum“
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung im persönlichen und im öffentlichen Raum für alle sind feministische Grundanliegen. Doch die Gleichstellung von Frauen hört oft spätestens dort auf, wo das Muttersein* beginnt. Es ist nicht nur eine Beobachtung, die frau im Freundinnen- und Bekanntenkreis macht, sondern auch theoretisch beschrieben und empirisch nachgewiesen, dass viele Frauen in eine antifeministische und retraditionalisierte Rolle gezwängt werden, sobald sie Mütter sind.
Die Soziologin Samira Baig hält in ihrer Untersuchung zu „Mutterschaft und Feminismus“ fest, dass Mutterschaft in feministischen und gendertheoretischen Zugängen „durchgängig als Einschränkung von Emanzipationsbegehren thematisiert wird.“ In der wissenschaftlichen Literatur sei das Bild der „guten Mutter“ allgegenwärtig. Es braucht die erfüllende Verbundenheit zwischen Mutter und Kind, die Selbstlosigkeit der Mutter und die Unterordnung ihrer Bedürfnisse, so wie den gleichzeitigen beruflichen Erfolg, um sie als „Top Mum“ auszuzeichnen.
Autorin Sonja Kittel beobachtet, dass Väter für ihren Beitrag oft besondere Anerkennung zukomme, während Müttern die Verantwortung ganz selbstverständlich umgehängt wird.
Die erschöpften Mütter
Die „ideale Mutter“ sollte die psychische und physische Gesundheit des Kindes im Fokus haben, dabei den Haushalt schmeißen, leistungsorientiert sein und sexuell anziehend bleiben, allerdings exklusiv für den Kindsvater – wer will schon als „needy mom“ gelten? Und das ist genauso anstrengend, wie es klingt. Egal, wo frau sich umschaut, da sind sie, die erschöpften Mütter. Die Schweizer Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach hat der „Erschöpfung der Frauen“ ein ganzes Buch gewidmet und beschreibt dort, warum so viele Frauen am Ende ihrer Kräfte sind und ihre Ausbeutung die Basis unserer Wirtschaft ist. „Keine moderne Regierung könnte es sich leisten ihre weiblichen Bürgerinnen für ihre Arbeit, die sie lebenslang umsonst machen, zu bezahlen“, schreibt auch die britische Autorin und Feministin Laurie Penny in ihrem Essay „Fleischmarkt“ und spielt damit auf die Care-Arbeit an, die nach wie vor zum größten Teil von Frauen erledigt wird.
Das sind die Fakten
Laut einer Berechnung des Momentum Instituts, das sich auf die Zeitverwendungserhebung der Statistik Austria (2021/2022) stützt, entspricht die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen etwa 13 Prozent – rund 60 Milliarden Euro – der Wirtschaftsleistung Österreichs. Laut dem aktuellen CEDAW-Schattenbericht, gemeinsam erarbeitet von einer Koalition österreichischer NGOs, übernimmt in acht von zehn verschiedengeschlechtlichen Paarhaushalten die Frau die Elternkarenz, während nur ein Prozent der Männer länger als sechs Monate in Karenz geht. Bei der Teilzeitquote von Frauen liegt Österreich laut Eurostat mit 50,6% (2023) europaweit auf Platz zwei. Betreuungspflichten sind der Hauptgrund. Seit mehr als einem Jahrzehnt verfehlt Österreich das EU-Ziel bei der Kinderbetreuung. Bei der derzeitigen Entwicklung wird es noch 400 Jahre dauern, bis der Gender Pay Gap hierzulande verschwindet. Die Resultate aus all diesen Zahlen sind niedrigere Teilzeitgehälter, deutlich geringere Pensionsbezüge und vermehrte Altersarmut von Frauen.
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DIE UNBEZAHLTE CARE-ARBEIT VON FRAUEN
ENTSPRICHT IN ÖSTERREICH ETWA 13 PROZENT DES BIP.
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Die mentale Belastung wiegt schwer
All das hält Frauen ab, in ihrem Muttersein frei, selbstbewusst und unabhängig zu agieren. Sie begeben sich mit dem Mutterwerden in eine Abhängigkeit vom Kindsvater und verfestigen diese mit jedem verpassten Arbeitsjahr. Sie fügen sich dem traditionellen Rollenbild der „idealen Mutter“, die Haushalt und Care-Arbeit übernimmt, müssen aber trotzdem zumindest Teilzeit arbeiten, um ihren ökonomischen Beitrag zu leisten oder wollen zumindest Teilzeit arbeiten, weil der von der Gesellschaft geforderte Maßstab des glücklichen Kindes für sie nicht die absolute Erfüllung bedeutet. Auch wenn sie einen Partner haben, der bereit ist die Kinderbetreuung aufzuteilen, gibt es in den seltensten Fällen eine wirklich 50:50-Teilung, weil der Mental Load bei der Mutter hängen bleibt.
Die Benennung des Mental Load schaffte für viele Mütter Erleichterung, weil es einen Namen gab für das, was schon immer ihre Lebensrealität war. Etwas, das getragen werden muss und das unglaublich viel Anstrengung kostet, obwohl es für den Partner meist unsichtbar bleibt. Auch wenn Väter ihre Kinder wickeln und füttern, sie ins Bett bringen oder mit ihnen spielen, die Gesamtorganisation des Familienlebens liegt fast immer bei den Müttern. Das ist das Denken an anstehende Termine, das rechtzeitige Besorgen passender Kleidung, die Vorbereitungen für den Schulausflug, der nächste Kindergeburtstag, die Planung von Schwimmkursen, Ferienbetreuung, Spieldates, Geschenke für die Kindergartenpädagoginnen, der Kuchen für das Schulschlussbuffet und die grundlegende Zufriedenheit aller Familienmitglieder. Auch wenn sich viel getan hat, von selbstverständlicher Gleichstellung von Müttern und Vätern sind wir noch weit entfernt.
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MÜTTER MÜSSEN SICH IHRER MACHT BEWUSST
WERDEN; DIE SIE IN DER GESELLSCHAFT HABEN
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Das grundlegende Recht auf Verweigerung
Doch wie können Feminismus und Muttersein gemeinsam gelebt werden? Für ihre 2023 veröffentlichte Studie führte die Soziologin Samira Baig narrative Interviews mit in Österreich lebenden, politisch aktiven, feministischen Müttern. Auf Basis der empirischen Ergebnisse entwickelte sie Konzepte des Mutterseins, die mit einer feministischen Haltung vereinbar sind. Sei es mit Fokus auf die Verbindung zum Kind, dem aktiven Umgang mit den neuen Umständen oder einem Verständnis von Muttersein als weiteren Aspekt des Lebens, der auch gemeistert werden muss. Gefangen in ökonomischen Sorgen und überlastet von den täglichen kaum bewältigbaren Aufgaben, bleibt wenig Zeit für die tatsächliche Beziehung zwischen Mutter und Kind. Doch auch dort ist der Platz, um feministische Haltung zu leben und einzunehmen – in der antipatriarchalen und an Gleichstellung orientierten Erziehung. Mütter müssen sich ihrer Macht bewusst werden, die sie in unserer Gesellschaft haben. „Wenn wir leben wollen, müssen wir uns an die Sprache des Widerstands erinnern. ‚Nein‘ ist das stärkste Wort im dialektischen Arsenal einer Frau“, schreibt Laurie Penny in „Fleischmarkt“. Auch wenn versucht wird, so Penny, Frauen mit aller Kraft davon abzuhalten, ihrem grundlegenden Recht auf Verweigerung nachzugehen, ist genau das Bewusstsein, dass eine Verweigerung zu kochen, zu putzen, zu betreuen und kostenlos Care-Arbeit zu leisten, jede westliche Gesellschaft in die Knie zwingen kann, ein Hebel, mit dem Mütter, mit dem Frauen, gemeinsam etwas ändern können. Die Möglichkeiten, Mutter zu sein und eine feministische Haltung zu leben, es gibt sie. Mütter, applaudiert euch, solidarisiert euch, stärkt euch und seid euch eurer Macht bewusst!
*Der Begriff Mutter ist hier eng gekoppelt an heteronormative strukturelle und kulturelle Gegebenheiten. Das Bestehen von Muttersein fernab dieser heteronormativen Sinnbezüge ist der Autorin bewusst.
Sonja Kittel ist freie Journalistin, Autorin, Mutter zweier Kinder im Kindergarten- und Volksschulalter und geschieden. Die Betreuung der Kinder teilt sie mit dem Vater im Wechselmodell.
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