Mythos Vielfalt?
Laut Polizei sollen rund sieben Prozent der Wiener Polizist*innen eine Einwanderungsgeschichte haben. Doch eine Untersuchung von 2017 zeigt: Es sind nur drei Prozent. Wie vielfältig ist das Polizeipersonal tatsächlich? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Semiran Kaya
Rund drei Prozent der Polizist*innen in Wien haben Migrationsgeschichte. Die Wiener Polizei möchte diverser werden. Voraussetzung ist allerdings die österreichische Staatsbürgerschaft.
Eine Zahl zu führen, finde ich nicht ganz richtig“, sagt Mohamed Ibrahim, der Cybercrime-Ermittler beim Bundeskriminalamt im schlichten Besprechungszimmer. „Wir sind ja alle österreichische Staatsbürger*innen und es würde wieder ein Unterschied gemacht werden“, sprudelt es aus dem ehemaligen Pressesprecher der LPD Wien heraus. Für den gebürtigen Steirer, dessen Eltern aus Ägypten stammen, war die Tatsache, dass er ein Kind eingewanderter Eltern ist, nie ein Thema bei der Polizei. Im Gegenteil: „Hietzing, das war die beste Zeit“, sagt der 32-Jährige lachend und ergänzt: „Also der ganze Bezirk, meine Kollegen, einer mit türkischen Wurzeln, und mein toller Chef – das war schon sehr fein und lustig. Ich habe viel Empathie und Bestätigung erfahren.“ Und doch wundert er sich, dass er als Polizist im Dienst noch nie Rassismus erfahren hat. „Ich denke, die Leute reagieren eher darauf, wie ich mit ihnen umgehe“, erklärt Ibrahim.
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Die Polizei müsse mehr tun, um Vorurteile abzubauen,
meint Christian Doneis, erster Schwarzer Polizist in Wien.
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Nach immerhin sechs Jahrzehnten Arbeits- oder Fluchtmigration stammt fast jede zweite Person in Wien aus einer Einwandererfamilie. Doch welches Verhältnis weist die Polizei bei der Zusammensetzung ihrer Belegschaft auf?
Als in den 80er Jahren Polizist*innen aus Einwandererfamilien fast undenkbar waren, trat 1982 der erste Schwarze Polizist seinen Dienst in Wien an. „Als ich in die Kantine kam, war es mucksmäuschenstill“, erinnert sich Christian Doneis. „Weil ich aber auch Wienerisch reden kann, trat meine auffällige Größe und meine Hautfarbe schnell in den Hintergrund. Die Hautfarbe war damals sogar noch in der Handakte vermerkt“, erzählt der Austro-Nigerianer. Bemerkungen wie „Pff, da hinten ist ein ganz Schwarzer“ konnte Doneis oft in kürzester Zeit kontern. Schließlich ist der gebürtige Wiener in der Gewaltprävention tätig. Und wenn das Maß des ständigen Hinweises „anders“ zu sein, einen kritischen Punkt erreicht? „Lasse ich mir nicht anmerken“, sagt er trocken. Um Vorurteile und Ängste gegenüber Eingewanderten abzubauen, müsse die Polizei schon mehr tun, ist er überzeugt.
Fehlende Zahlen
Nachdem die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) 2001 einen Bericht über Österreich veröffentlicht hatte, formulierte der Europarat im selben Jahr allgemeine Empfehlungen für die Polizeiarbeit. Darin empfahl sie „Männer und Frauen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft, einschließlich ethnischer Minderheiten, einzustellen, mit dem allgemeinen Ziel, dass das Polizeipersonal die Gesellschaft widerspiegelt, der es dient“.
Für Mohamed Ibrahim, ehemaliger Pressesprecher der Landespolizeidirektion Wien, spielte die Herkunft seiner ägyptischen Eltern keine Rolle: „Ich habe viel Empathie und Bestätigung erfahren“.
Daten hierzu fehlten in Österreich. Wie viele Polizist*innen Österreich oder Wien in den 80er Jahren hatte, als Doneis anfing, ist nicht bekannt. Zahlen zur Polizei gibt es erst seit 1999, als ein einheitliches Erfassungssystem für Exekutivbeamt*innen eingeführt wurde. Allerdings sind die Daten nicht öffentlich zugänglich. Bis heute müssen alle Zahlen aufgrund des fehlenden Informationsfreiheitsgesetzes beim Innenministerium erfragt werden. Selbst der Statistik Austria liegen sie nicht vor.
Bis die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen aus Einwandererfamilien Zugang zum Polizeidienst haben sollten, umgesetzt wird, vergehen acht Jahre. 2007 werden sie erstmals im Rahmen der Kampagne „Wien braucht dich“ von der MA 17, der städtischen Abteilung für Integration und Diversität, und der Polizei direkt angesprochen. Christian Doneis ist da schon seit 25 Jahren bei der Polizei und gilt als Vorzeigebeispiel. Während er die Öffnung aus Überzeugung unterstützt, um alte Bilder und Muster bei der Polizei zu durchbrechen, rumort es unter einigen seiner Kolleg*innen. Doneis solle nicht wie ein „Pandabär in Schönbrunn“ präsentiert und instrumentalisiert werden, lautet die Kritik. Gleichzeitig ärgert sie die Werbung durch das hervorgehobene „Anderssein“ ihres Kollegen so sehr, dass ihn eine gesamte Polizeiinspektion ausgrenzt. „Weil sie meinten, man mache aus ihm etwas Besonderes“, erzählt ein Gruppenleiter. Dabei gab es damals in Wien nur 40 Polizist*innen (0,6 Prozent) mit Einwanderungsgeschichte. Der Anteil in der Bevölkerung lag hingegen bei 35 Prozent. „Die Polizei hier ist eine homogenisierende Gruppe und stellt eine Dominanzkultur dar. Sich dann als benachteiligt zu positionieren, ist sehr schwierig“, sagt die Soziologin Hannah Reiter vom Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (Vicesse). Eine Transparenz, die der monoethnischen weißen Belegschaft erklärt hätte, warum dieser Schritt wichtig ist, blieb damals aus.
Zahlen von Polizist*innen mit und ohne Einwanderungsgeschichte in Wien
Stand 4/2017; eigene Darstellung der Autorin (MH = Migrationshintergrund)
Quelle: BMI, Personalleiter, Statistik Austria
*davon 32 Frauen; **ungesicherte Daten, da Abbruchszahl unbekannt
Emotionaler Panzer
Auch Denis D.* erfuhr, wie schwierig es in einer Organisation sein kann, die auf Anpassung ausgerichtet ist: „Als wir mit mehreren Kollegen mit Migrationshintergrund zusammentrafen, fragte ein Kollege, ob das jetzt die nächste Belagerung ist“. Es habe manchmal einen emotionalen Panzer gebraucht. „Aber ich habe gelernt solche Sachen nicht zu ernst zu nehmen“, berichtet D. Schließlich sei es „wunderbar, dass Menschen mit Migrationshintergrund, einen Beruf in Österreich ausüben können, der den Staat vertritt.“
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Ein ehemaliger Gruppenleiter:
„Vorurteile dürfen nicht mit dem Wiener Schmäh weggewischt werden, der keiner ist.“
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Sich mit hartnäckigen Vorurteilen der Belegschaft gegenüber den neuen, „fremden“ Kolleg*innen auseinanderzusetzen, wurde selbst für den Gruppenleiter irgendwann zu viel: „Man muss schon aufpassen, dass es nicht zu weit geht, wenn Vorurteile mit dem Wiener Schmäh weggewischt werden, der aber keiner ist.“ Für einen besseren Umgang mit anderen Kulturen wären für ihn Auslandseinsätze relevanter als ein paar Stunden über Ethik oder ein Moscheebesuch.
Fehlendes Vertrauen gegenüber den vermeintlich Neuen und mangelnde Erfahrung im Umgang mit Vielfalt gingen mit einem Druck auf das migrantische Polizeipersonal Hand in Hand: Bei Amtshandlungen wurden sie genauer beobachtet und mussten dem Bild des Polizisten stärker entsprechen. Bei manchen führte der Druck zu einer Überanpassung oder Übermotivation, um nicht als Kollege „mit Migrationshintergrund“ abgestempelt zu werden.
„Die Übermotivierten denken, ich muss meinem Chef zeigen, ich bin gut oder besser als die Eigenen, obwohl alles in Teamarbeit gemacht wird“, beschreibt ein Leiter die Einordnung von migrantischem Polizeipersonal ins Gruppengefüge.
Hannah Reiter vom Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung: „Die Polizei ist eine homogenisierende Gruppe“. Sich hier als benachteiligt zu positionieren sei schwierig.
Internationaler Vergleich
Trotz dieser auf Akzeptanz angelegten Leistung von loyalen Mitarbeiter*innen ging es der Polizei scheinbar weniger um die Repräsentation ethnischer Minderheiten, als um den Nutzen ihrer Potentiale. „Diversität wird hier als Instrumentalisierung an Personen verstanden, nicht aber wie z. B. in England, um eine Sensibilität zu erhalten. Dafür müsste erkannt werden, dass die Wohnbevölkerung in Wien keine durchgehend weiße Mittelschicht mehr ist“, so Soziologin Hannah Reiter, die zur Gleichstellung von Polizistinnen in Österreich, England und Wales promovierte. Auch in Deutschland sieht es anders aus: Ein Blick in den Mediendienst Integration zeigt, 2022 hatten in Berlin 37 Prozent bei der Polizei einen sogenannten Migrationshintergrund, sprich Einwanderungsgeschichte. Während für den Polizeidienst in Österreich die Staatsbürgerschaft vorausgesetzt wird, können sich in Berlin alle EU-Bürger*innen bewerben.
Laut dem damaligen Staatssekretär Sebastian Kurz zählte Wien schon 2012 sieben Prozent Polizist*innen mit Einwanderungsgeschichte. Eine Zahl, die 2015 auch vom damaligen Polizeisprecher bestätigt wird. Tatsächlich aber hatten nicht sieben, sondern knapp drei Prozent des Polizeipersonals 2016 eine Einwanderungsgeschichte, ergab eine Auswertung des damaligen Personalleiters. Laut Innenministerium wird die Migrationsbiografie aus Datenschutzgründen nicht mehr erhoben, während zuvor freiwillige Angaben möglich waren.
Tatsächlich aber wird mit jeder Bewerbung eine sogenannte Sicherheitserklärung abgegeben, in der die aktuelle sowie frühere Staatsangehörigkeiten als auch die früheren Namen der Eltern abgefragt werden. Daten für eine Analyse liegen somit durchaus vor. Die vom damaligen Personalleiter gesicherten Daten zeigen: Zwischen der Lebensrealität der Stadtbevölkerung und der der Polizei besteht eine deutliche Kluft.
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Die Vielfalt innerhalb der Polizei
bleibt bis heute ein Amtsgeheimnis.
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Von den 7.536 Polizist*innen hatten lediglich 216 Personen (2,87 Prozent), davon 32 Frauen, eine Einwanderungsgeschichte. Eine Leitungsfunktion hatte niemand von ihnen. 2017 erreichte Wien mit 256 Personen mit Migrationsgeschichte in ihrer Belegschaft den höchsten Stand seit 1982. In einem Video-Interview mit dem Kurier von 2018 spricht der Vizechef der Landespolizei Michael Lepuschitz davon, dass sich der „Anteil erhöht“ habe. Um wie viel genau? Valide Zahlen gebe es nicht. Der Polizeivize habe sich lediglich auf „seine langjährigen und persönlichen Erfahrungen“ als Bezirksleiter bezogen, heißt es auf Nachfrage bei der Polizei.
Beständiges Amtsgeheimnis
Und heute, wie hoch ist nun ihr Anteil? Eine „seriöse zahlenmäßige Aussage“ sei nicht möglich, so der Personalleiter Manfred Simettinger. Die Vielfalt bleibt somit ein Amtsgeheimnis. „Solange das BMI alles selber herausgeben kann, ist die Kontrolle gewahrt, es muss nichts aus der Hand geben“, sagt die Soziologin Hannah Reiter. Der Sicherheitsforscher Reinhard Kreissl hingegen bezeichnet diese Öffentlichkeitsarbeit als eine „unglaubliche Paranoia“.
Auch wenn sich durch die aktuellen Informationsveranstaltungen der Stadt Wien mehr Menschen aus Einwandererfamilien bei der Polizei bewerben und später vom Bundeskriminalamt oder dem Landesamt für Verfassungsschutz – auch aufgrund ihrer Sprachkompetenzen – abgeworben werden, hat sich heute, außer der gesicherten Zahl, kaum etwas verändert. Wie aber kann eine wirkliche Diversität erreicht werden, wenn diese nicht durch Daten erfasst wird? Werbung mit Testimonials wie mit Mohamed Ibrahim alleine sagt nichts darüber aus, wie gut Polizeikräfte aus Einwandererfamilien vertreten sind. Dabei geht es nicht um die Hervorhebung von Unterschieden. Es geht um die soziale Teilhabe, die nicht gegeben ist. „Eine umfassende Inklusion aller Menschen in den Polizeidienst darf nicht auf einzelne, gesetzliche Maßnahmen aufbauen, sondern muss auch die Polizeikultur und ihre Vorstellungen umfassen“, so Soziologin Reiter. Mit anderen Worten: Auch die Polizei muss inklusiver werden.
Semiran Kaya, freie Journalistin, untersuchte 2017 die Diversität bei der Wiener Polizei für ihre Bachelorarbeit an der Universität Wien.
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