Nicht nur Sonne im Süden
Die Sozialisten in Portugal sicherten sich bei den Neuwahlen entgegen aller Prognosen die absolute Mehrheit. Als Minderheitsregierung hatten sie zuvor mit den Troika-Sparauflagen gebrochen. Einige soziale Probleme bleiben in der Top-Urlaubsdestination aber ungelöst. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text und Fotos: Milena Österreicher
Das war für uns alle eine Riesenüberraschung“, sagt die Politikwissenschafterin Sofia Serra Silva von der Universidade de Lisboa, „niemand hat mit diesem Erfolg gerechnet“. Die sozialistische Partei Portugals, die PS, hat geschafft, wovon die Sozialdemokratie in anderen europäischen Ländern nur träumen kann: Am 30. Jänner 2022 erreichten die Sozialisten unter Ministerpräsident António Costa bei vorgezogenen Neuwahlen mit knapp 42 Prozent die absolute Mehrheit in der Assambleia da República, dem portugiesischen Parlament.
Seit der Nelkenrevolution 1974, dem friedlichen Putsch einiger Militärangehöriger, der das Ende von 40 Jahren Diktatur markierte, wurde Portugal abwechselnd von zwei Großparteien regiert: den Mitte-links Sozialisten (PS - Partido Socialista) sowie den Mitte-rechts Sozialdemokraten (PSD - Partido Social Democrata). Die letzten sechs Jahre lang hatten die Sozialisten eine Minderheitsregierung geführt, die sich bei Abstimmungen ihre Mehrheiten durch die Stimmen zweier linker Kleinparteien sicherten. Ende vergangenen Jahres spielten diese nicht mehr mit und verweigerten ihre Zustimmung zum Haushaltsentwurf für 2022. Sie sahen keine ausreichende Balance zwischen Sozialpolitik und Schuldenabbau mehr gegeben. Portugal ist von den rigiden Sparvorgaben der Troika (Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds und Europäische Kommission) immer noch deutlich gezeichnet.
Seit 2015 hatten die Sozialisten (PS) unterstützt von kleinen radikaleren Linksparteien in der Minderheit regiert. Sie hoben u.a. den Mindestlohn auf 505 Euro an.
Auf Sparkurs
Die Finanzkrise hatte Portugal schwer getroffen. 2011 erhielt das Land unter Sparauflagen der Troika ein 78 Milliarden Euro schweres Hilfspaket. Die damalige PSD-Regierung erhöhte Steuern, kürzte Pensionen und Sozialausgaben und entließ Beamt*innen aus dem Staatsapparat. Der Mindestlohn stagnierte für vier Jahre auf einem monatlichen Niveau von 458 Euro.
Neben Sparmaßnahmen wurde auch versucht, ausländisches Geld ins Land zu holen. „Golden Visa“ wurden an Drittstaatsangehörige vergeben, die mindestens eine halbe Million Euro in Immobilien investierten, und sich so freie Einreise in den Schengen-Raum sichern konnten. 5,2 Milliarden Euro spielte das Programm bis 2020, vor allem durch Investor*innen aus Russland, Brasilien und China, ein. Auch europäische Pensionist*innen wurden mit Steuerbefreiungen angelockt, um ihren Lebensabend im sonnenverwöhnten Land auf der iberischen Halbinsel zu verbringen.
Abgestraft
Bei den Wahlen 2015 verloren die Konservativen ihre absolute Mehrheit. PS-Chef António Costa, der als Wahl-Zweiter hervorgegangen war, nutzte die Gelegenheit. „Zum ersten Mal in der Geschichte der portugiesischen Demokratie hatten sich die Sozialisten mit den radikaleren Linksparteien zusammengetan“, beschreibt Politologe António Costa Pinto. Die „Geringonça“ („Klapperkiste“) war geboren. So bezeichnete man die Konstellation der Sozialisten mit dem „Bloco Esquerda“ (dem Linksblock, BE) und dem Wahlbündnis CDU (Coligação Democrática Unitária), das aus Kommunisten und Grünen besteht. Eine Konstellation dreier Parteien, die, abgesehen von der Abkehr der Sparpolitik, wenig gemein hatten.
Die „Klapperkiste“ entschied sich jedenfalls gegen die Austeritätspolitik, die Portugal ähnlich wie Italien, Spanien und Griechenland auferlegt wurde. Damit machte man international Schlagzeilen. Die Zusammenarbeit mit der radikalen Linken wurde auch von den europäischen Institutionen kritisch beäugt. „Aber entgegen der Erwartungen erhöhten sie die Staatsausgaben nicht drastisch“, erklärt Costa Pinto. Dass die Wirtschaft anzog, begünstigte die Ausgangslage dabei. Die Sozialisten und ihre Verbündeten machten die Kürzung einiger Sozialleistungen rückgängig, hoben den Mindestlohn auf 505 Euro an und besteuerten höhere Einkommen stärker. Aber nicht alles wurde zurückgenommen. „Der schwache Arbeitnehmer*innenschutz und die gekürzte Bezahlung von Überstunden sind bis heute geblieben“, ergänzt die Politikwissenschafterin Sofia Serra Silva.
Lissabon wurde zur Top-Reisedestination: Innerhalb weniger Jahre stieg die Zahl der Ferienwohnungen von 500 auf 18.000. Die Mieten explodierten, Wohnraum fehlt.
Olá Lisboa
Gleichzeitig boomte der Tourismus. Portugal – insbesondere die Hauptstadt Lissabon – wurde zur Top-Reisedestination. Rund 5 Millionen Tourist*innen besuchten vor der Pandemie 2019 die 500.000-Einwohner*innen Hauptstadt am Tejo. Die Wirtschaft erhielt Aufwind, jedoch nicht ohne Auswirkungen für die lokale Bevölkerung. Innerhalb von sieben Jahren stieg die Zahl der Ferienwohnungen in Lissabon von 500 auf 18.000. Wohnraum, der nun fehlt – ein Problem, das man im Zuge des boomenden Städtetourismus auch aus anderen Metropolen kennt. Im Jahr 2019 belief sich die Miete für eine Zweizimmerwohnung in Lissabon auf 900 bis 1.200 Euro – bei einem Durchschnittslohn von rund 1.200 Euro.
„Niemand mit einem portugiesischen Gehalt kann sich solche Mieten leisten“, sagt Sara Fernandes von „Habita“. Die Organisation setzt sich für das Recht auf Wohnraum ein und unterstützt Menschen, die von Zwangsräumungen betroffen sind. Noch bis 2012 gab es eine Mietpreisbremse. Im Zuge der Sparauflagen wurde diese beendet. Der Wohnungsmarkt wurde liberalisiert, Häuser renoviert und Mieten angehoben. Wenn die Miete nicht bezahlt werden konnte, drohte die Zwangsräumung. Selbst die UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen, Leilani Farha, warnte damals vor einer „ungezügelten Touristifizierung“, die das Entstehen einer „neuen Armut“ bewirken könnte.
„Es gab nie eine starke Wohnpolitik, so wie etwa in Österreich“, erzählt „Habita“-Kollegin Maria João Costa. Begonnen hatte das strukturelle Wohnraumproblem bereits in den 1990er-Jahren. Damals wurde Lissabon zur europäischen Kulturhauptstadt, auch die Weltausstellung EXPO fand hier statt. „Man hat damals Platz für Tourist*innen geschaffen, die Preise für Wohnungen sind daraufhin in die Höhe geschossen. Für die Menschen, die durch diese Politik verdrängt wurden, hatte man aber keine Alternativangebote bereitgestellt“, so Costa. Die Finanzkrise hatte das Wohnraumproblem noch verschärft. Portugies*innen finden seither immer schwerer eine Mietwohnung, vor allem in den Ballungsräumen der größten Städte, Lissabon und Porto.
Politologe Costa Pinto: Die Regierung machte die Kürzung einiger Sozialleistungen rückgängig.
Wenig Wohnraum
Das hat auch mit der Struktur des Wohnungsmarktes zu tun. Portugal verfügt mit gerade einmal zwei Prozent über eine der niedrigsten Sozialwohnungsraten Europas. Zum Vergleich: In Österreich liegt der Anteil bei 24 Prozent, wie „Housing Europe“, der Europäische Verband des öffentlichen, genossenschaftlichen und sozialen Wohnungsbaus, in einer Studie 2021 feststellte. Dabei würde in Portugal großer Bedarf bestehen. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, also von weniger als 540 Euro im Monat.
Ein Problem, das die beiden „Habita“-Aktivistinnen in letzter Zeit vermehrt zu hören bekommen, ist, dass einige Vermieter*innen „Mobbing“ betreiben, um Menschen mit alten, günstigeren Verträgen aus den Wohnungen zu bekommen. „Sie drehen Wasser und Strom ab, wechseln die Schlösser aus oder starten Bauarbeiten rund um dich herum, sodass es unmöglich wird, weiter in dem Haus zu bleiben“, erzählt Maria João Costa.
Neoliberale Bestimmungen bleiben
Auch die Zahl der Zwangsräumungen ist gestiegen. Im Jahr 2017 verloren laut dem Justizministerium durchschnittlich fünf Familien täglich ihr Zuhause. „Auch wenn wir eine sogenannte sozialistische Regierung haben, bleiben diese neoliberalen Bestimmungen bestehen, und das strukturelle Problem wird nicht angegangen“, sagt die „Habita“-Aktivistin Maria João Costa. Sie befürchtet, dass sich das Problem verschlimmern wird, sobald es nach den Wahlen wieder ruhiger wird.
Rechtspopulisten im Parlament
Weiterhin beschäftigen wird die portugiesische Öffentlichkeit nach den Wahlen jedenfalls ein Thema: der Zugewinn der rechtspopulistischen Partei CHEGA. Jahrelang galt Portugal als Ausnahmeland, in dem es keine rechtspopulistischen Parteien und Abgeordnete im Parlament gab. Das änderte sich im Frühjahr 2019 als der Jurist und ehemalige TV-Sportkommentator André Ventura die Partei CHEGA („Es reicht“) gründete und ein halbes Jahr später bei den Parlamentswahlen mit einem Mandat den Einzug ins Parlament schaffte. Innerhalb von drei Jahren wurde die Partei nun mit über 7 Prozent und 12 Abgeordneten zur drittstärksten Kraft. CHEGA setzt auf bewährte Formeln solcher Parteien und zwar eine Anti-Haltung: gegen das Establishment, gegen eine liberale Migrationspolitik, gegen Menschen, die Sozialleistungen beziehen, und gegen den Vorwurf, Portugal sei rassistisch. Dabei brodelt es gerade bei diesem Thema immer wieder unter der Oberfläche.
Menschen mit Migrationsgeschichte aus den ehemaligen Kolonien berichten immer wieder von Alltagsrassimus. Und auch rassistisch motivierte Gewalttaten schockierten in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit des weltoffenen Landes. Etwa der Mord an Bruno Candé im Juli 2020, einem Schwarzen Schauspieler, der auf der Straße in einem Vorort von Lissabon erschossen wurde. Der Täter: ein ehemaliger Soldat, der im Kolonialkrieg in Angola gekämpft hatte. Im Februar 2021 erhielt eine Petition rund 25.000 Unterschriften, die forderte, dass der Leiter der NGO „SOS Racismo“ des Landes verwiesen wird.
Politologin Serra Silva: Der schwache Arbeitnehmer*innenschutz ist geblieben.
Koloniale Schatten
Portugal hat ein großes Kolonialerbe. Es war die erste und letzte Kolonialmacht Europas. Über 500 Jahre lang beherrschte das Land Gebiete in Afrika, Lateinamerika und Asien. Millionen Menschen wurden im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels verschleppt. Die letzten Kolonialkriege in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau endeten erst 1974 im Zuge der Nelkenrevolution.
Danach standen zunächst die Umbrüche im eigenen Land auf der Tagesordnung. „Wir haben jetzt weniger Probleme mit der autoritären Vergangenheit“, meint der Politologe Costa Pinto. „Im Gegensatz zu anderen südeuropäischen Ländern, wie etwa Spanien, wo man bis heute über das Grab von Franco und den Umgang mit seiner Gedenkstätte diskutiert. In Portugal gab es einen klaren Bruch mit der Diktatur, auch auf symbolischer Ebene“. Auch die portugiesische Verfassung spricht eine klar anti-autoritäre Sprache, so Costa Pinto. Über das koloniale Erbe werde jedoch nicht gern gesprochen. „Die nationale Identität besteht zum größten Teil immer noch aus diesem Bild der brillanten Vergangenheit als Seefahrer und Entdecker der Welt.“
Sonnige Zeiten für Sozialisten?
In der ehemaligen Seefahrernation warten indes viele Herausforderungen auf den sozialistischen Ministerpräsidenten António Costa. „Er wird seine bisherige Politik wohl fortsetzen und auch im Budgetplan keine großen Änderungen vornehmen“, schätzt die Politikwissenschafterin Sofia Serra Silva. „Dank der absoluten Mehrheit muss er der Linken nun keine Zugeständnisse mehr machen“. Ob die Sonne für die Sozialisten bei den nächsten Wahlen noch scheinen wird, wird sich aber auch an ihrem Umgang mit den drängenden sozialen Fragen und der erstarkten Rechten zeigen.
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