Stützen der Gesellschaft – Perwin Cheikh Mousa, Bankbetreuerin: „Wichtig, an sich selbst zu glauben und sich auch Unterstützung zu holen“
Perwin Cheikh Mousa flüchtete als Jugendliche mit ihrer Familie aus Syrien, erst in die Türkei und dann nach Österreich. Dort begegneten der jungen Frau Vorurteile und Rassismus und sie verlor fast den Glauben an eine gute Zukunft. Dank der Unterstützung ihrer Familie und einem starken Willen, gab sie nicht auf und schaffte es aus eigener Kraft zu einem Bildungsabschluss und einem Beruf, der sie glücklich macht.
Redaktion: Sonja Kittel, Fotos: Michael Pöltl
„Alles wurde bombardiert“
„Mein Vorname ist Perwin, mein Nachname Cheikh Mousa. Ich bin 24 Jahre alt und wurde als Älteste von vier Geschwistern in Damaskus, der Hauptstadt von Syrien geboren. Ein paar Monate nach Kriegsbeginn war es unmöglich zu bleiben. Alles wurde bombardiert. Das Haus meiner Großeltern, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, gibt es nicht mehr. Es wurde komplett zerstört. Mein Vater arbeitete als Buchhalter, aber der Weg zur Arbeit und zurück war zu gefährlich. Wegen der Bomben und auch, weil man als Mann einfach eingezogen und in den Krieg geschickt werden konnte. Meine Eltern entschieden deshalb zu flüchten. 2011 flohen wir mit meinen Tanten und meiner Oma in die Türkei, da war ich 13 Jahre alt.
„Wir waren nicht willkommen“
Auch dort war es nicht einfach. Wir konnten die Sprache nicht und niemand wollte uns helfen. Unsere Ersparnisse hatten wir bald aufgebraucht. Mein Vater arbeitete auf einer Baustelle, und meine Mutter, eine Friseurin, hatte ein paar Kunden in der Nachbarschaft. So finanzierten sie unser Leben. Meine zwei kleinsten Geschwister konnten in den Kindergarten und die Volksschule, aber mein Bruder und ich mussten zuhause sitzen und durften nicht zur Schule. Mein Opa und mein Onkel starben im Krieg in Syrien und irgendwann sagte mein Vater, so geht es nicht weiter. Wir können nicht zurück nach Syrien, aber auch in der Türkei haben wir keine Zukunft. Wir waren nicht willkommen. Mein Traum war es zu studieren, in Syrien war ich immer eine Streberin gewesen. Mein Vater hielt es nicht aus, dass wir nur zuhause saßen und unsere Zukunft verloren. Er entschloss nach Europa zu gehen.
Zu alt für die Schule, zu jung für das AMS
Mein Vater nahm den Fluchtweg auf sich und schaffte es bis nach Österreich. Er bekam einen positiven Asylbescheid und konnte uns neun Monate später per Flugzeug über die Familienzusammenführung nachholen. Innerhalb eines halben Jahres hatten auch wir einen positiven Bescheid. Mein Vater war nach drei Monaten auf B1-Niveau, obwohl er keinerlei Vorkenntnisse in Deutsch hatte. Sein Asylverfahren führte er ohne Dolmetscher. Deshalb ging es vielleicht auch so schnell mit dem Bescheid. In Eichgraben lernte mein Vater die MOZAIK-Gruppe kennen, freiwillige Helfer:innen, die ihn sehr unterstützten. Meine Geschwister durften als außerordentliche Schüler:innen in die Schule gehen und waren nach einem Jahr im Normalbetrieb. Bei mir war es schwieriger, weil ich fast 18 war und zu alt für die Schule. Ich meldete mich beim AMS, um zumindest Deutschkurse zu besuchen, aber da sagten sie mir, ich sei zu jung. Also saß ich ein paar Monate zuhause und lernte mit meinem Vater und mit Youtube-Videos und Büchern Deutsch. Ich klebte Post-its auf alle Gegenstände in der Wohnung, mit ihrer deutschen Bedeutung und lernte so die Sprache.
„Die schlimmsten drei Jahre meines Lebens“
Ich fand dann eine Übergangsklasse für Geflüchtete in der HAK, an der ich teilnehmen konnte. Wir waren 15 Schüler:innen, fast alle aus Syrien. Die Lehrer:innen waren teilweise sehr rassistisch. Sie fragten uns, was wir später machen wollten und wir sagten, Matura, Studieren und so was. Das wären unrealistische Träume, sagten sie und wir sollten lieber eine Lehre machen, aber das war nicht was ich wollte. Ich meldete mich bei der Höheren Lehranstalt für Wirtschaftliche Berufe (HLW) in St. Pölten an. Meine Eltern redeten mir Mut zu und motivierten mich. Was dann kam, waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens. Wir waren scheinbar die ersten Geflüchteten an dieser Schule und trafen auf sehr viele Vorurteile und Ablehnung. Viele Mitschüler:innen mobbten uns, versteckten oder zerstörten unsere Schulsachen und schlossen uns aus. Die Lehrer:innen sagten uns immer wieder, das wir das nicht schaffen würden und es gab kaum Unterstützung. Nur die Deutschlehrerin lobte uns manchmal.
„Ich ziehe das durch und glaube an mich“
Vor allem die Kochlehrerin war sehr streng. Sie wollte immer genau wissen, wie alle Küchenutensilien heißen. Ich war zwar schon sehr gut in Deutsch, aber die Fachbegriffe waren teilweise noch sehr schwer für mich. Immer, wenn ich etwas nicht genau benennen konnte, gab es ein Minus. Die erste Klasse musste ich wiederholen, weil sie mich nicht beurteilte, und ich fühlte mich in ihrer Klasse wie ein Gegenstand. Ich musste in den drei Jahren viele Medikamente nehmen, weil ich Magenprobleme bekam und dreizehn Kilo abnahm. Das war so deprimierend. Niemand in der Schule glaubte an mich. In den ersten Sommerferien war ich nur zuhause und habe nachgedacht und geweint. Meine Mutter war in dieser Zeit wie eine Therapeutin für mich. Als das zweite Schuljahr begann, sagte ich mir, es ist egal, was die anderen denken, ich ziehe das durch und glaube an mich. Und ich habe es geschafft. Bei der Abschlussprüfung habe ich dann extra Küchen- und Servicemanagement als Wahlfach genommen, um der Lehrerin zu zeigen, was ich kann, und ich habe die volle Punktzahl bekommen.
„Meine ganze Jugend war ein einziger Kampf“
Ich bekam dann auch einen Platz beim Aufbaulehrgang der HLW und freute mich sehr darüber. Doch nach den Sommerferien kam ein Brief vom Sozialamt mit der Info, dass dieser Platz nicht mehr finanziert wird. Ich hätte jetzt eine Ausbildung und müsste arbeiten. Das versetzte mir wieder einen richtigen Schlag. Was ich in den letzten Jahren hier erlebt hatte, war einfach zu viel. Meine ganze Jugend, in der ich eigentlich mit Freunden unterwegs sein sollte, fortgehen und mein Leben leben, war ein einziger Kampf. Meine Eltern schafften es noch einmal, mich aus diesem Tief zu holen. Ich fand in Wien einen Job beim Gesundheitsamt und machte nebenbei eine Ausbildung zur Workshop-Leiterin bei ORIENTEXPRESS. Ich hielt Workshops für Schüler:innen mit Migrationshintergrund und gab ihnen die Unterstützung, die ich selbst in der Vergangenheit gebraucht hätte. Von da an ging es bergauf.
„Jetzt war diese Chance einfach da“
In meiner Freizeit half ich vielen geflüchteten Familien bei Problemen im Alltag oder Behörden und übersetzte für sie. Einmal bat mich meine Nachbarin, mit ihr zur Raiffeisen-Bank zu gehen, um ein Konto zu eröffnen. Ich übersetzte für sie und am Schluss fragte mich der Bankberater, wer ich sei und welche Sprachen ich könnte. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch und Kurdisch sprechen würde. Er fragte mich, ob ich Lust hätte in der Bank zu arbeiten. Sie würden gerade jemanden suchen. Ich konnte es gar nicht glauben. Ich hatte mich früher schon mal für eine Lehre in der Bank beworben, aber keinen Platz bekommen und jetzt war diese Chance einfach da. Ich ging durch das Bewerbungsverfahren und bekam tatsächlich den Job. Genau gegenüber unserer Wohnung wurde eine neue Raiffeisen-Filiale eröffnet, in der ich anfangen konnte.
„In jedem Ende liegt ein Anfang“
Aufgrund meiner Ausbildung in der HLW musste ich keine Lehre machen und konnte gleich losarbeiten. Nach drei Monaten wurde ich zur Mitarbeiterin des Monats gekürt. In der Bank herrscht eine sehr schöne Atmosphäre und mit den Kolleg:innen habe ich ein super Verhältnis. Mein Leiter, der mich damals zur Bank geholt hat, sagte mir auch, dass ich immer zu ihm kommen könnte, wenn ich Probleme hätte. Das weiß ich sehr zu schätzen. Ich wurde auch zur Mitarbeiterin des Jahres gewählt und ich habe zu meiner Mama gesagt, ich glaube, ich habe das verdient. Nach allem, was ich durchgemacht habe, bin ich jetzt angekommen und zufrieden. Gerade mache ich eine Fortbildung für Finanzierungen und Versicherungen und kümmere mich um den Jugendclub der Bank. Meine Sprachkenntnisse sind oft sehr hilfreich bei den Kunden. Ich möchte auf jeden Fall noch bis zum Senior Berater aufsteigen, und die Staatsbürgerschaft ist ein weiteres Ziel. Es ist wichtig, an sich selbst zu glauben und sich auch Unterstützung zu holen. Ich weiß, dass es manchmal schwierig ist, aber wenn man etwas wirklich will, dann schafft man es auch. Im arabischen gibt es ein Sprichwort, dass auch im Deutschen gilt: ‚In jedem Ende liegt ein Anfang‘ und das gibt Hoffnung.“
Sie mussten aus ihrem Heimatland fliehen und fast alles zurücklassen. Jetzt arbeiten sie in Österreich in einem systemrelevanten Beruf und zählen zu den Stützen der österreichischen Gesellschaft. In der 11-teiligen Porträtreihe „Stützen der Gesellschaft“ erzählen geflüchtete Menschen, wie sie unter oft sehr schwierigen Bedingungen einen Neuanfang geschafft haben, und welche Wünsche und Ratschläge sie haben. Wenn Sie Geflüchtete unterstützen wollen, finden Sie hier Infos und Kontakte. Alle bereits veröffentlichten Porträts der aktuellen Reihe sowie unsere Porträtreihen der letzten Jahre sind hier nachzuschauen: www.hierangekommen.at
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