
Pflaster über klaffende Wunden
Zu gemäßigt, zu viel Identitätspolitik oder zu wenig inklusiv: Wie steht es um „den Feminismus“? Warum gibt es so viele Baustellen? Und wo fehlt weibliche Solidarität? Ein Gespräch unter Feministinnen verschiedener Generationen und Strömungen.
Protokoll: Milena Österreicher, Fotos: Christopher Mavrič
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Es ist ein grauer Donnerstagnachmittag Ende Jänner. FPÖ und ÖVP verhandeln noch über eine Regierung. „Herdprämien“, Gender-Verbote und Kürzung von Förderungen schweben im Raum. Das MO-Magazin bat vor dieser Kulisse zum Gespräch über Errungenschaften und Misserfolge des Feminismus.
Die Grippewelle ließ die Gesprächsrunde kurzfristig neu zusammensetzen. Teilgenommen haben nun vier Frauen, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Erfahrungsschätzen mit Feminismus beschäftigen:
Nadja Riahi arbeitet als freie Journalistin zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen und sozialen Ungerechtigkeiten und beobachtet den Online-Feminismus der vergangenen Jahre.
Lea Susemichel ist Autorin und leitende Redakteurin des feministischen Magazins „an.schläge“, das seit über vierzig Jahren Feminismus in Österreich und darüber hinaus unter die Lupe nimmt.
Gertraud Klemm geht in ihren literarischen Werken, wie dem Roman „Einzeller“ (Kremayr & Scheriau, 2023), der Frage nach, welcher Feminismus recht hat. Aktuell arbeitet sie an ihrem neuen Buch zu Matriarchaten.
Brigitte Handlos war zunächst Lehrerin und später Journalistin. Sie ist Mitgründerin des Vereins „Frauennetzwerk Medien“ und betreibt den Podcast „Frauenfunk“.
MO-Magazin: Wir sitzen hier in einem Café im Zentrum Wiens. Hier in Wien fand 1993 die UN-Menschenrechtskonferenz statt, auf der Frauenrechte erstmals offiziell als Menschenrechte anerkannt wurden. Wo stehen wir nun nach mehr als dreißig Jahren?
Lea Susemichel: Vor Trumps erneuter Wiederwahl hätte ich insgesamt eine positive Bilanz gezogen. Es gab große Meilensteine, auch auf rechtlicher Ebene, zuletzt die MeToo-Bewegung, die viel vorangebracht hat. Es ist wichtig, anzuerkennen, dass es enorme Fortschritte gibt – auch in Österreich. Es zeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen. Andererseits geschieht vieles quälend langsam. Wenn wir uns zum Beispiel die letzte Zeitverwendungsstudien ansehen, ist in Bezug auf die Aufteilung von Care-Arbeit kaum etwas weitergegangen. Und global sehen wir uns nun mit einem massiven Backlash konfrontiert. Dieser Rückschlag droht uns weit zurückzuwerfen.
Brigitte Handlos: Meine große Hoffnung – und das sehe ich teilweise bei den sehr jungen Frauen – ist, dass sie aufgrund dieser enormen Bedrohung endlich sagen „Fuck it!“ und aktiv werden. Gesetze existieren, aber sie müssen verteidigt werden, mit aller Vehemenz. Geht auf die Straßen, meldet euch zu Wort und seid laut! Ein Donald Trump kann so laut schreien, wie er will. Sein größter Gegner wird bald Elon Musk sein, der viel mächtiger als er sein wird, weil er die Infrastruktur besitzt. Deshalb appelliere ich an die unglaublich gut ausgebildeten Frauen der nächsten und übernächsten Generation: Stürzt euch in die IT-Welt, sichert euch die besten Jobs, geht in die Aufsichtsräte, macht etwas aus eurem Leben – und lasst euch nicht einschüchtern. Es wird vielleicht nicht immer lustig sein. Aber reißt euch die BHs runter und traut euch endlich wieder raus!
Nadja Riahi: Es ist absolut notwendig, vehement aufzustehen. Gerade im Online-Bereich sieht man, wie sich rechte Männer auf Social Media positionieren, oft mit Narrativen, wie „Your body, my choice“. Da fehlt eine vergleichbare Gegenbewegung. Grundsätzlich wissen wir dennoch aus der Protestforschung, dass die wahre Macht von Protesten auf der Straße liegt. Natürlich ist das auch unbequem. Wer sich als Feministin öffentlich positioniert, wird anecken. Aber es ist wichtig.
Allerdings merke ich auch, dass vielen die Kraft ausgeht. Es ist unglaublich anstrengend, im Patriarchat zu leben. Es fängt bei der kleinen sexuellen Belästigung an, geht weiter damit, dass der Partner seit drei Tagen die Küche nicht aufgeräumt hat, bis hin dazu, dass der Arbeitskollege 200 Euro mehr verdient als ich. Es sind so viele Dinge, bei denen man ansetzen muss.
Lea Susemichel, leitende Redakteurin der „an.schläge“: „Antifeminismus ist nun ein Kernelement des neuen Faschismus weltweit.“
Gertraud Klemm: Ich bin nicht besonders optimistisch, was die Entwicklungen der letzten 30 Jahre angeht, denn an den großen Stellschrauben hat sich kaum etwas geändert. Wir haben immer nur Pflaster über eine klaffende Wunde geklebt, aber das Grundproblem des Patriarchats ist nicht gelöst. Ich schreibe gerade an einem Essay, bei dem ich mich frage: Wenn ich dem Feminismus etwas vorwerfen würde, was wäre es? Es sind für mich drei Punkte. Erstens: Der Feminismus hat sich nicht um alternative Familienstrukturen gekümmert. Das heteronormative Modell wurde nicht durch andere Strukturen ersetzt. Wir bräuchten ein „Rudel“-Modell, die Kleinfamilie ist absolut nicht „artgerecht“. Das sage ich jetzt als Biologin. Die patriarchale Kleinfamilie ist erdgeschichtlich sehr jung und ganz sicher nicht die beste Struktur. Zweitens: Der Feminismus hat sich nicht mit Spiritualität auseinandergesetzt. Die Religionen sind bis heute, wie sie waren. Wir haben keine eigene spirituelle Basis, keine Göttinnen. Drittens: Der Feminismus hat es nicht geschafft, die 51 Prozent der Bevölkerung, die Frauen ausmachen, als feministische Bewegung zusammenzuhalten. Stattdessen sind wir in unzählige Strömungen zersplittert. Wir stellen die Mehrheit und trotzdem haben wir nicht die Macht. Wir kontrollieren weder die Wirtschaft noch die Politik. Der Feminismus muss sich selbstkritisch fragen: Wieso haben uns so viele Frauen den Rücken gekehrt?
Handlos: Der Feminismus konnte nie wirklich „sexy“ gemacht werden, weil viele der Themen, über die wir hier sprechen, mit Verzicht verbunden sind – vor allem für Frauen. Man arbeitet bis zur Erschöpfung, kümmert sich gleichzeitig um die Kinder und lebt ständig mit einem schlechten Gewissen. Die Vorstellung der Powerfrau, die mühelos alles schafft, hat Frauen unter enormen Druck gesetzt.
Susemichel: Zudem ist Antifeminismus nun ein Kernelement des neuen Faschismus weltweit. Früher dominierten nur Migrationsthemen den Wahlkampf, doch mittlerweile ist Antigenderismus, oder wie die FPÖ es nennt, „Genderwahn“, in den Mittelpunkt gerückt. In einem internen FPÖ-Verhandlungspapier zur Regierungsbildung kamen Themen wie Klima oder Bildung überhaupt nicht vor. Dafür wurde explizit gefordert, dass Dragqueens nicht mehr an Schulen vorlesen dürfen. In Trumps Wahlkampf und den Werbespots war das Thema Trans genauso präsent wie Migration. In Ungarn ließ Orban als Erstes die Gender Studies abschaffen. Das zeigt, wie zentral dieses Thema für rechte Politik geworden ist. Das wurde massiv unterschätzt, auch von Feministinnen. Viele haben nicht erkannt, wie tief verwurzelt Sexismus, Maskulinismus, Antifeminismus und Misogynie sind – selbst bei Frauen.
Autorin Gertraud Klemm: „Der Feminismus muss sich selbstkritisch fragen, wieso ihm so viele Frauen den Rücken gekehrt haben.“
Klemm: Identitätspolitik verunsichert aber viele Menschen. Die traditionelle Vorstellung von „Mann und Frau“ wird aufgebrochen, und das sorgt für Angst. Eine von den US-Demokraten in Auftrag gegebene Umfrage zeigte, dass dies einer der drei Hauptgründe war, warum viele Menschen plötzlich republikanisch gewählt haben. Diese Unsicherheit betrifft besonders Frauen und darüber zu sprechen, ist fast schon tabu. Fakt ist: Nur 20 Prozent der Frauen im deutschsprachigen Raum bezeichnen sich überhaupt als Feministinnen, 80 Prozent nicht. Wenn dann zusätzlich neue Gender-Kategorien eingeführt werden, fühlen sich viele überfordert. Der Feminismus muss einfacher werden. Er muss populistischer sein. Er muss klare Forderungen haben, die alle unterschreiben können: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Kostenlose Verhütungsmittel. Eine gute Gesundheitsversorgung.
Handlos: Es muss uns doch gelingen, ein paar wenige Dinge durchzusetzen, auf die sich alle einigen können.
Susemichel: Identitätspolitik ist nicht neu, sie begleitet den Feminismus von Anfang an. Schon 1851 stellte Sojourner Truth mit ihrer Rede „Ain‘t I a Woman?“ die Frage: Wer gehört dazu? Wer wird vom Feminismus repräsentiert? Die Debatten waren immer da: Arbeiterinnen fühlten sich von bürgerlichen Feministinnen nicht vertreten, Schwarze Frauen von weißen Feministinnen und lesbische Frauen von heterosexuellen nicht. Diese Auseinandersetzungen haben den Feminismus aber nicht geschwächt, sondern weiterentwickelt. Sie haben ihn zur bedeutendsten sozialen Bewegung des letzten Jahrhunderts gemacht.
Riahi: Es ist essenziell, dass wir uns solidarisieren. Spaltung hat auch mit Kapitalismus zu tun. Uns wird suggeriert, dass Ressourcen knapp sind, dass es nur wenige Plätze gibt, um an die Spitze zu gelangen. Besonders im beruflichen Kontext heißt es oft: Es gibt nur einen Platz. Diese künstliche Verknappung führt dazu, dass wir eher Ellbogen ausfahren, anstatt uns gegenseitig zu unterstützen. Und genau das fördert auch Misogynie unter Frauen, weil uns dieses Konkurrenzdenken von klein auf eingetrichtert wird.
Brigitte Handlos, ehemalige Lehrerin und Journalistin: „Reißt euch die BHs runter und traut euch endlich wieder raus!“
Susemichel: Feminismus wird oft kleingeredet, als sei er völlig zerstritten. Aber das stimmt nicht. Wir haben die NiUnaMenos-Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen, die Grüne Welle in Lateinamerika, die die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in einigen Ländern erkämpfte. Das sind Massenbewegungen, die oft totgeschwiegen werden. In Spanien streikten etwa am Frauentag fünf Millionen Frauen – wäre das ein von Männern geführter Streik gewesen, hätte er Schlagzeilen gemacht.
Es ist unglaublich viel passiert und es ist wichtig, das zu sehen. Sonst bleibt nur die falsche Vorstellung, dass wir alle zerstritten seien und nichts vorangeht. Die Kämpfe sind essenziell, weil sie für mehr Gerechtigkeit für mehr Menschen sorgen. Wir müssen auch am Image des Feminismus arbeiten, sodass wir für möglichst viele Menschen – vor allem für Frauen, aber nicht nur – anschlussfähig sind. Ich glaube, die meisten Menschen wären empfänglich dafür, wenn die Debatte nicht so stark instrumentalisiert und von Hetze überlagert werden würde.
Wie schon angesprochen, machen Frauen 51 Prozent der Gesellschaft aus und trotzdem gelingt es nicht, eine große Bewegung auf die Beine zu stellen. Liegt das auch daran, dass der sogenannte weiße Feminismus dominiert und nicht alle inkludiert?
Klemm: Ich würde eher von einem akademischen Feminismus sprechen als von einem weißen.
Susemichel: Die Kritik bezieht sich ja darauf, dass der weiße Feminismus aktiv an der Unterdrückung anderer Frauen beteiligt ist. Er produziert hegemoniale Verhältnisse, die dazu führen, dass Frauen doppelt und dreifach ausgebeutet werden.
Klemm: Aber sag‘ das mal einer alleinerziehenden Supermarktkassiererin, dass sie als weiße Feministin privilegiert ist.
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„WEISSER FEMINISMUS IST AKTIV AN DER
UNTERDRÜCKUNG ANDERER FRAUEN BETEILIGT.“
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Susemichel: Weißer Feminismus bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die gesellschaftliche Position. Und es geht um eine paternalistische Haltung. Und es geht auch darum zu sehen, dass es immer schon viele Feminismen gab, nicht nur den weißer, bürgerlicher Frauen. Zuletzt habe ich zum Konzept der „unbedingten Solidarität“ gearbeitet. Das bedeutet, dass Solidarität gerade mit den Menschen bestehen sollte, mit denen ich nichts gemein habe – weder Milieu, Herkunft, Geschlechtsidentität noch sexuelle Orientierung. Solidarität mit Gleichgesinnten ist absolut in Ordnung: Das ist wie in einer Gewerkschaft, wenn Metallarbeiter zusammenkommen und gemeinsam einen Lohnabschluss erreichen. Aber Solidarität muss immer weitergehen und Solidarität bedeutet eigentlich, andere Menschen in ihrem Kampf um ihre Rechte zu unterstützen.
Klemm: Mir ist diese Machtpyramide klar. Ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als mich mit Feminismus auseinanderzusetzen. Aber wir können uns kaum noch vorstellen, wie es für eine normale, nicht privilegierte und nicht gebildete Frau ist, die sich nicht ständig mit feministischen Themen beschäftigt.
Susemichel: Es geht um ein grundlegendes Verständnis: Es gibt Menschen, die haben eine ganz andere Lebensrealität und kämpfen mit viel mehr Scheiße als ich. Dazu muss man nicht studieren, um das zu begreifen.
Klemm: Nein, das nicht. Aber wir erreichen so nicht den Punkt zu einer Veränderung zu kommen. Die 80 Prozent Frauen, die sich nicht als Feministinnen bezeichnen, sind so müde von all dem, dass sie sich nicht einmal als solche benennen wollen. Diese Menschen wählen dann auch anders. Über die kritische Masse kommen wir so nicht hinaus.
Susemichel: Aber das liegt nicht daran, dass der Feminismus zu komplex geworden ist.
Journalistin und Moderatorin Nadja Riahi: „Wer sich als Feministin öffentlich positioniert, wird anecken. Aber es ist wichtig.“
Klemm: Ich glaube schon.
Susemichel: Nein, das glaube ich nicht. Das erzählen uns die Medien ständig, sie kochen das immer wieder hoch.
Klemm: Ich spreche oft mit meinen Freundinnen, die zum Beispiel Polizistinnen oder Kassiererinnen sind. Sie sagen: „Lass mich in Ruhe mit FLINTA (A. d. Red.: Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen), schon wieder eine neue Bezeichnung. Ich will einfach nur eine Frau sein.“
Susemichel: Man muss eben klar machen: Du kannst weiterhin eine Frau sein, niemand verbietet dir das. Ich bin überzeugt davon: Man kann Menschen erreichen ohne andere dafür zurücklassen zu müssen.
Mit Stand Ende Jänner sehen wir uns in Österreich mit einer möglichen blau-schwarzen Regierung konfrontiert. Das könnte auch in Bezug auf Frauenpolitik kritisch werden. Wie soll es nun weitergehen?
Klemm: Ich habe nur ein Wort: Streik.
Susemichel: Lasst uns einen Frauen-streik machen.
Riahi: So wie 1975 in Island.
Handlos: Ich finde es unfassbar, dass es so weit gekommen ist. Aber Angst habe ich keine. Angst lähmt, wir dürfen uns davon nicht einschüchtern lassen. Das bringt uns nirgendwo hin.
Susemichel: Wir müssen uns mit Utopien beschäftigen, die wirklich tief gehen. Wir sollten uns nicht immer von den rechten Diskursen treiben lassen, sondern selbst Themen setzen und sagen, wir machen etwas anderes. Wir müssen jetzt dagegenhalten. Auf der Straße, aber auch in Gesprächen und in den Medien. Es ist wichtig, präsent zu sein.
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