„Pflege muss gesichert sein, nicht profitabel“
Flavia Matei setzt sich mit der Interessensgemeinschaft der 24h-Betreuer_innen (IG24) für die Rechte der mehrheitlich osteuropäischen Betreuer*innen in Österreich ein. Ein Gespräch über Ausbeutung, Alternativen und österreichische Reformpolitik. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Andreas Bachmann, Fotos: Lukas Ilgner
Rund 60.000 24-Stunden-Betreuer*innen schultern in Österreich einen großen Teil der häuslichen Pflege älterer Menschen. Sie kommen fast ausschließlich aus osteuropäischen Ländern und pendeln zwischen ihrer Heimat und dem Arbeitsplatz in Österreich. Vor 15 Jahren wurde ihre Arbeit erst legalisiert. Davor arbeiteten Tausende 24-Stunden-Betreuer*innen im Verborgenen. Die Arbeitsbedingungen haben sich für sie seitdem kaum verbessert. Doch die Betreuer*innen kämpfen zunehmend lautstark für ihre Rechte. Sie organisieren sich in Verbänden wie der Interessengemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer_innen IG24, die im Mai 2023 von SOS Mitmensch mit dem Ute Bock-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet wurde.
MO-Magazin: Wie schlimm sind die Arbeitsbedingungen für 24-Stunden-Betreuerinnen in Österreich?
Flavia Matei: Sie sind ausbeuterisch. Wir reden über migrantische Arbeiter*innen – es sind fast nur Frauen – die bis zu vier Wochen und 24 Stunden am Tag für eine Person da sein müssen, ohne geregelte Arbeitszeiten und soziale Absicherung. Die ganzen Abläufe in der Branche sind höchst problematisch – und seit 15 Jahren ungeregelt.
Wie wichtig sind die 24-Stunden-Betreuer*innen für die Pflege in Österreich?
Jedes Mal, wenn wir Probleme ansprechen, bekommen wir als Antwort: Die 24-Stunden-Betreuer*innen kümmern sich um eh nur um 5 Prozent der Pflegegeldbezieher*innen. Investitionen seien nicht verhältnismäßig. Aber wir wissen schon jetzt, dass in Zukunft immer mehr Pflege und Betreuung gebraucht wird, weil Österreichs Gesellschaft altert.
Es ist eine grundsätzliche Frage für unsere Gesellschaft: Was für ein Pflege- und Betreuungssystem wünschen wir uns? Auch wenn die 24-Stunden-Betreuer*innen nur 100 Menschen wären: Es wäre noch immer problematisch, von ihnen zu erwarten, vier Wochen und 24 Stunden am Tag unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Und das für 3 Euro pro Stunde.
Die Politik und Vermittlungsagenturen sagen, es sei unfinanzierbar, die 24-Stunden-Betreuung anders zu regeln. Das derzeitige System sei praktisch alternativlos. Ist es das?
Damit wird das Problem auf den 24-Stunden-Betreuer*innen abgeladen. Weil sie wenig Geld und Absicherung bekommen, ist alles noch irgendwie finanzierbar. In Verhandlungen wird das Gespräch an diesem Punkt beendet: Sie anzustellen sei nicht finanzierbar. Aber warum denken wir unser Pflegesystem mit einer Marktlogik? Pflege ist wie Bildung, Gesundheit oder öffentlicher Verkehr grundlegend für die Daseinsvorsorge. Es sind Grundrechte, die uns als Menschen zustehen. Und die sollen nicht finanzierbar sein? Pflege muss nicht profitabel sein, sie muss gesichert sein. Hier muss der Staat endlich Verantwortung übernehmen.
24-Stunden-Betreuung wird fast ausschließlich von Frauen aus Osteuropa geleistet. Belegt das nicht allein schon, wie unattraktiv dieser Job ist, wenn Österreicher*innen das gar nicht machen wollen?
Es ist nicht nur unattraktiv. Schockierend ist, wie wenig sie netto tatsächlich bekommen. Arbeiten sie zwei oder vier Wochen hier, gehen sie danach für die gleiche Zeit in ihr Heimatland, um sich zu erholen. Das heißt, was sie in einem Turnus verdienen, muss die Lebenskosten für die doppelte Zeit decken. Netto bekommen sie also im Durchschnitt monatlich zwischen 700 und 900 Euro heraus. Davon kann man in Österreich nicht leben. Es ist absurd, dass wir so ein System entwickelt haben.
Protest der 24-Stunden-Betreuer*innen: Ein offener Brief für bessere Arbeitsbedingungen wurde Gesundheitsminister Johannes Rauch und Arbeitsminister Martin Kocher Ende Juni 2023 übergeben.
Was bedeutet es für die Betreuer*innen, zwei bis vier Wochen von der Familie getrennt in Österreich zu sein, dann zurückzukommen und bald wieder wegzumüssen?
Für die Betreuer*innen ist das kein Traumberuf. Sie steigen ein, weil sie sonst keine andere berufliche Perspektive haben oder in finanzieller Not sind. Besonders für Betreuer*innen, die kleinere Kinder haben, ist das emotional schwierig. In Österreich sind sie isoliert und kämpfen mit Heimweh. Sie werden nie wirklich akzeptiert, sondern als Ausländer*innen behandelt, die ihren Job machen sollen. In ihrem Heimatland wirft man ihnen vor, sie seien schlechte Mütter, weil sie ihre Kinder, Partner*innen und Familien im Stich lassen würden. In beiden Ländern sind sie mit Vorwürfen konfrontiert.
Wenn Sie von ausbeuterischen Bedingungen sprechen: Wer ist dafür verantwortlich? Die Klient*innen, Vermittlungsagenturen oder staatliche Akteure?
Die Familien sind keine ausbeutenden Arbeitgeberinnen. Die kämpfen auch, das bezahlen zu können. Wenn sie eine 24-Stunden-Betreuung brauchen, sind sie in einer Krisensituation. Ein/e Angehörige*r hat schwere gesundheitliche Probleme. Sie sind dabei nicht bösartig. Aber sie können sich diese Dienstleistungen nur leisten, wenn die Betreuer*innen ausgebeutet werden. Mit Vermittlungsagenturen gibt es viele Probleme. Es gibt Agenturen, die unkorrekt und ungerecht und manchmal an den Grenzen der Legalität mit Betreuungskräften umgehen. Das ist eine gewaltige Grauzone. Wenn das vom Staat gesetzlich strenger geregelt wäre, hätten Vermittlungsagenturen diesen Spielraum nicht und wären die Betreuer*innen besser geschützt.
Ist es ein Fehler, dass die Vermittlung der Betreuer*innen mehrheitlich von privaten Unternehmen, die Gewinn machen wollen, übernommen wird?
Natürlich. So haben die Kolleg*innen keinen eigenen Zugang zu Klient*innen. Sie finden keine Arbeitsplätze ohne eine Vermittlungsagentur. Es gibt Konkurrenzklauseln. Sie können nicht einfach ohne Agentur bei den zu betreuenden Personen bleiben. Die Agenturen sind eine Art Gatekeeper. Sie entscheiden, wer auf den Arbeitsmarkt kommt oder nicht.
Wohin führt diese Abhängigkeit von den Agenturen?
Das führt zu einem großen Teil zu den Problemen im Arbeitsalltag. Oft wissen Betreuer*innen vorher nicht einmal, zu welcher Person sie kommen. Sie haben gerade 20 Stunden in einem überfüllten Minibus zwischen ihrer Heimat und Österreich verbracht, sind übermüdet und erschöpft. In der Situation ist es schwierig, nein zu sagen oder zu verhandeln, wenn sie mit dem Verdienst nicht einverstanden sind. Denn, wo sollen sie hin?
Die Abhängigkeit von Agenturen ist für 24-Stunden-Betreuer*innen sehr problematisch, erklärt Flavia Matei von der IG24. Die Interessensgemeinschaft erhielt den Ute Bock-Preis für Zivilcourage.
Personenbetreuer*innen sind auf dem Papier selbstständig. Sie suchen sich ihre Klient*innen aus und können frei verhandeln, was sie dafür bekommen – zumindest in der Theorie.
Vieles passiert hier nur auf theoretischer Ebene. Wenn wir Beschwerden bei Behörden vorbringen, dann heißt es: Die Betreuer*innen sind Selbstständige, die können alles selber regeln. In der Realität ist die Vermittlungsagentur die erste Stelle, wenn es ein Problem gibt. Sie agieren wie Arbeitgeber*innen. In anderen Branchen wäre das unvorstellbar.
Was muss getan werden, damit die Betreuer*innen dieser Abhängigkeit entkommen?
Was sie sich wünschen, ist eine Anstellung. Sie wollen Schutz durch das Arbeitsrecht. Wie genau das umgesetzt werden kann, muss die Politik beantworten. Wenn das zum Ergebnis führt, dass so ein 24-Stunden-Betreuungsmodell unfinanzierbar ist, dann müssen wir andere Modelle entwickeln. Betreuer*innen könnten in Schichten arbeiten. Sie könnten in Wohngemeinschaften untergebracht sein, damit Berufsleben und privat klar getrennt sind und sie echte Auszeiten bekommen. Sie könnten über eine Genossenschaft angestellt werden.
Es ist schwierig nach 15 Jahren zu sagen: Das ist ein schlechtes System, wir müssen das neu denken. Ich verstehe da auch die Politik. Aber ein ausbeuterisches System noch zehn Jahre weiter so durchzuziehen, ist eine Katastrophe. Alle leiden darunter, außer die Vermittlungsagenturen.
Ab Herbst gibt es für Familien, die 24-Stunden-Förderung in Anspruch nehmen, 800 statt 640 Euro vom Staat dazu. Bekommen die Betreuer*innen jetzt auch mehr Geld?
Das ist nirgends geregelt. Es hängt von den Familien ab, ob sie den Betreuer*innen deshalb mehr geben. Die Betreuer*innen fürchten eher, dass die Provisionen für die Vermittlungsagenturen steigen und ihre Honorare leider gleich bleiben.
Die Regierung hat vorgeschlagen, dass sich eine Betreuerin in Zukunft um bis zu drei Personen kümmern könne. Das bedeutet doch noch mehr Belastung?
Genau, für eine Betreuerin ist es schon jetzt erschöpfend, zwei Personen 24 Stunden am Tag zu betreuen. Drei Personen ist unmöglich. Als das angekündigt wurde, war es so formuliert, diese Regelung nur möglich zu machen, wenn die Betreuer*innen auch angestellt sind. Das ist wieder vom Tisch. Das ist einfach unfassbar und macht mich wütend. So wird das jetzige ausbeuterische System noch ausbeuterischer. Die Pflegereform lässt die Betreuungskräfte wieder im Stich.
Welche Möglichkeiten haben 24-Stunden-Betreuer*innen, sich zu wehren, wenn sie etwa Gewalt erleiden müssen?
Wir haben an alle Türen geklopft und geschildert, was wir in der Branche erleben mit Gewalt oder sexueller Belästigung. Niemand hat uns unterstützt. Der Staat übernimmt null Verantwortung. Betreuer*innen können nicht in Frauenhäuser gehen, wenn Klient*innen oder deren Angehörigen gewalttätig sind. Das wird als Ausbeutung am Arbeitsplatz eingestuft und nicht als häusliche Gewalt. Wir haben die Gleichbehandlungsanwaltschaft angerufen, sie sind aber nur für Arbeitnehmer*innen zuständig. Wir wurden an die Arbeiterkammer weitergeleitet. Die Betreuungskräfte sind dort aber keine Mitglieder, weil sie formal selbstständig sind. Die Antwort ist immer: Regelt das über private Anwälte. Das ist zum Schreien. Auch hier wird weggeschaut.
Inzwischen organisieren sich die 24-Stunden-Betreuer*innen in Verbänden wie der IG24. Auch auf Facebook ist die Community sehr aktiv. Treten die Betreuer*innen jetzt stärker für ihre Rechte ein?
Sie sind nicht mehr bereit, ihre Situation zu akzeptieren. Zuletzt haben wir eine Kundgebung vor dem Sozialministerium gemacht und einen offenen Brief mit unseren Forderungen abgegeben. Es war toll und überraschend, dass so viele Kolleg*innen aus so vielen Ländern mitgemacht haben. Auch die, die nicht dabei sein konnten, haben aus Solidarität Fotos mit ihren Botschaften geschickt. Das war eine Mobilisierung, wie ich sie in dieser Branche zum ersten Mal erlebt habe. Und ich glaube, diese Mobilisierung geht nicht weg.
Andreas Bachmann ist Journalist und Redakteur bei MOMENT.at.
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