
Schmerz
Manche haben eine Wunde zugefügt bekommen, so tief, dass die ganze Welt darin verschwindet. Warum begegnen ihnen andere dennoch mit Hass? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne: Martin Schenk
Auf die Frage „Wie geht’s dir?“, fange ich sofort zu weinen an“, schreibt die Regisseurin Elisabeth Scharang, die sich ins nächste Restaurant flüchten konnte. Draußen am Schwedenplatz wird geschossen. „Aus dem Nichts drückt eine Welle aus Schmerz in mir hoch, die mir die Stimme verschlägt. Dabei ist mir nichts passiert, ich bin nicht verletzt worden und nicht direkt bedroht.“
Und doch, es ist etwas passiert. Das Vertrauen in die Welt ist angeknackst, vielleicht auch gerade verloren. Eine Ahnung davon, was das Gefühl, verloren zu gehen, die Welt zu verlieren, sein könnte, gibt uns Jan Philipp Reemtsma, der von Erpressern 30 Tage in einem Keller gefangen gehalten wurde. Seine Aufzeichnungen beschreiben eine total ver-rückte Welt. „Alles ist wie es war, nur passt es mit mir nicht mehr zusammen. Als trüge ich eine Brille, die alles einen halben Zentimeter nach links oder rechts verschiebt. Oder als seien die Oberflächen der Dinge leicht gebogen, als würde nichts mehr Halt finden, das ich hinstellen möchte. Welt und ich passen nicht mehr.“ Man kann ja seinen Schlüssel verlieren oder seine Brille, aber die Welt verlieren? Und doch: Manche haben eine Wunde zugefügt bekommen, so tief, dass die ganze Welt darin verschwindet. Ich habe zwei Jahre bei Hemayat, einem Gesundheitszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, gearbeitet. Die Wucht der Geschichten und der Verwundungen sind eigentlich nicht auszuhalten. Eine Welt, die es gibt und bei der man zweifeln will, dass es sie geben kann.
„Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, weil sie spüren: wenn der Hass einmal verschwunden ist, werden sie gezwungen sein, sich mit Schmerz zu beschäftigen“, sagt der Literaturnobelpreisträger James Baldwin. Das gilt für Hassprediger, aber das gilt umgekehrt auch für uns alle in anderer Form. Es ist zur Zeit keine leichte Situation. In Dauerschleife läuft ja als Hintergrundbedrohung Corona weiter. Viel Erschöpfung jetzt nach so vielen Monaten. Auch viele Verwundungen. Für autoritäre Politiken ein fatal fruchtbarer Boden. In diesen Augenblicken sind Dinge politisch durchsetzbar, die sonst bei Verstand, Abwägung und Verhältnismäßigkeit nie gingen. Weil der Schmerz so groß ist.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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