
Schritt für Schritt
POPULÄR GESEHEN. Über kleine Schritte: zum großen Bösen, aber auch in die andere Richtung.
Eine Kolumne von Martin Schenk
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
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„Jeder Schritt war so winzig, so belanglos, so plausibel gerechtfertigt, dass auf täglicher Basis niemand verstand, was das Ganze im Prinzip bedeuten sollte und wohin all diese ,winzigen Maßnahmen‘ eines Tages führen würden.“ Das schrieb der Publizist Milton Mayer in seiner Studie über Erfahrungen von Leuten der 1930er und -40er-Jahre in Deutschland. „Auf täglicher Basis verstand es keiner, genau so wenig wie ein Bauer in seinem Feld sein Getreide von einem Tag auf den nächsten wachsen sieht. Jede Handlung ist aber schlimmer als die letzte, doch nur ein wenig schlimmer.“
Ein Angriff auf die unabhängige Justiz da, eine Einschränkung der freien Medien dort, eine Beschimpfung von Minderheiten hier, ein Sündenbock da, Menschenrechte in Frage stellen dort, eine Verhöhnung evidenzbasierter Wissenschaft dazu. Ein Interviewter vor hundert Jahren: „Nun lebst du in einer Welt bestehend aus Hass und Furcht, und die Leute, die hassen und fürchten, wissen nicht einmal selbst, dass, wenn jeder transformiert ist, keiner transformiert ist. Du hast Dinge akzeptiert, die du vor fünf Jahren nicht akzeptiert hättest, oder vor einem Jahr.“
„So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage.“ Stefan Zweig schreibt ähnliche Erfahrungen aus den 1930er Jahren wie Milton Mayer nieder. In Mayers Alltagsbeobachtungen aus dem real existierenden Autoritarismus klingt das so: „Im politischen wie im persönlichen Bereich ebnet der Nichtwiderstand gegen die milderen Anlässe den Weg für den Nichtwiderstand gegen die tödlicheren.“
„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung“, ergänzt Schriftsteller Michael Köhlmeier heute. In dieser Beobachtung ist auch ein Hoffnungsfunke versteckt. Wenn die Schritte zum Bösen taugen, dann taugen sie auch in die andere Richtung. Kein Schritt ist belanglos. Kein Schritt ist umsonst.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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