Sie schweigen nicht mehr
Eine Protestbewegung möchte die Missstände rund um die MA 35 nicht mehr hinnehmen. Initiatorin Sigal Dvir über die Forderungen und was sich seit den Demonstrationen getan hat. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
Seit Monaten wird es um die Magistratabteilung 35 (MA 35) in Wien, zuständig für Zuwanderung und Staatsbürgerschaft, nicht ruhig. Verschleppte Anträge, diskriminierende und unfreundliche Behandlung – die Liste der Vorwürfe ist lang. „Der Standard“ berichtete etwa von 500 Beschwerden bei der Volksanwaltschaft im aktuellen Jahr, weil Anträge bei der MA 35 nicht innerhalb der sechsmonatigen Maximalfrist erledigt wurden. Das ist beinahe eine Verdoppelung der 284 Beschwerden des Vorjahres.
Protestbewegung
„Das kann es doch nicht sein“, dachte sich auch Sigal Dvir im Sommer. Die gebürtige Deutsche wartete bereits drei Monate auf die Anmeldebescheinigung als EWR-Bürger*in für sich und ihre drei Kinder, daran gekoppelt ist die Aufenthaltskarte für ihren israelischen Ehemann. Aufgrund der Pandemie waren keine Termine vor Ort möglich, Nachfragen per E-Mail blieben unbeantwortet, auch postalisch gab es keine Rückmeldung.
Proteste: Es geht um verschleppte Anträge, diskriminierende Behandlung, nicht abgehobene Telefone.
Als sie dann noch auf Ö1 einen MA 35-Mitarbeiter davon erzählen hörte, dass das Telefon einfach nicht abgehoben werde, reichte es ihr. „Ich war so frustriert, dass man eine Familie einfach so sitzen lässt. Wenn ich wenigstens gewusst hätte, was fehlt“, sagt Dvir.
Außerdem dachte sie, es müssten noch viel mehr Menschen davon betroffen sein, auch sehr viele, die nicht Deutsch als Erstsprache beherrschen. „Das ist womöglich ein Grund, warum es um die Betroffenen bisher relativ ruhig war“, vermutet Dvir.
Damit sollte Schluss sein. Dvir postete in diversen Facebook-Gruppen einen Protestaufruf. Rund 50 Menschen folgten dem Aufruf und versammelten sich Anfang August vor dem Rathaus. Das mediale Aufsehen blieb überschaubar. Dennoch wollte Dvir nicht aufgeben. Sie gründete auf Facebook die Gruppe „Demonstration MA 35“ sowie später die Gruppe mit gleichlautender Website „Migrants in Vienna“. Bei der nächsten Demo Anfang September waren es bereits 250 Menschen, begleitet von einem breiten Medienecho.
Sehr schnell traten viele Betroffene der Facebook-Gruppe bei. Mittlerweile zählt die Gruppe über 2.000 Mitglieder. Beinahe täglich häufen sich darin die Berichte über monatelanges Warten auf Antworten, rassistisches Verhalten der Mitarbeiter*innen und andere Probleme rund um den Kontakt mit der Einwanderungsbehörde.
Bei der Behörde
Davon weiß auch Pavel (Name der Redaktion bekannt, Anm.) zu berichten. Der russische Musiker, der mehrere renommierte internationale Auszeichnungen gewann, beschloss 2018 aus privaten Gründen nach Österreich zu ziehen. Als er bei der Behörde war, weigerte sich der Mitarbeiter Englisch zu sprechen.
„Für jemanden, der erst seit einem Jahr in Österreich ist, ist es natürlich möglich, ein wenig Deutsch zu sprechen“, meint Pavel. „Aber das reicht doch nicht, um das Behördendeutsch und die Formulare ausreichend verstehen zu können. Das ist selbst in meinem eigenen Land oft unverständlich.“ Als er nachfragte, antwortete der Mitarbeiter: „Ich spreche schon Englisch, aber ich will nicht“ und verwies auf eine interne Anweisung, nur Deutsch zu sprechen.
Sechs Monate wartete Pavel auf die erste Verlängerung seines Visums, neun Monate auf die zweite. Bei Freunden von ihm dauerte es über ein Jahr. Für einen Künstler, der auf Konzertreisen ins Ausland muss, ist das aber geschäftsschädigend. Er darf ja in der Wartezeit Österreich nicht verlassen. „Tatsächlich hat mich das um Auftritte gebracht. Ich verstehe es nicht, ich bezahle hier ja auch Steuern“, so Pavel.
Lange Wartezeiten haben für die Betroffenen verschiedene Folgen. Wenn Anträge über Monate nicht bearbeitet werden, wird für die Betroffenen Familienbeihilfe, Kinderbetreuungsgeld, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe ausgesetzt. Zwar gilt eine Einreichbestätigung für einen Antrag auf Verlängerung als Nachweis für einen rechtmäßigen Aufenthalt – und somit könnte etwa auch einer Arbeit nachgegangen werden – in der Praxis ist es für Betroffene aber in dieser Zeit schwierig, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen bevorzugen im Regelfall jene, deren Aufenthalt rechtlich abgesichert ist.
Die Proteste gehen weiter, auch Sigal Dvir will weiter aktiv sein, auch wenn ihr Fall nach dem Protestaufruf rasch abgeschlossen wurde.
Alter Frust, neue Versprechen
Nach drei Monaten war auch Sigal Dvir so frustriert, dass sie die Pässe ihrer Familie einfach in die Postbox der MA 35 schmiss. „Ich hatte die Hoffnung, dass sich dann doch mal jemand melden muss und ich dann nachfragen kann, welche Unterlagen denn eigentlich noch fehlen?“
Es funktionierte. Nach fünf Tagen kam der Anruf. Es fehle noch ihr Gewerbeschein. Eine Fehlinformation, da sie als selbstständige Deutschtrainerin ein freies Gewerbe ausübt. „Beim Finanzamt und bei der SVS klappt ja alles einwandfrei. Da werde ich seit Tag 1 zur Kasse gebeten“, ärgert sich Dvir.
Nach dem ersten Protestaufruf im Sommer wurde ihr Fall schnell abgeschlossen. Sigal Dvir kämpft dennoch weiter. Mitte Oktober fand ein Treffen der Gruppe „Migrants in Vienna“ mit dem zuständigen Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr statt. „Das war ein wenig ernüchternd“, erzählt Dvir. Wiederkehr kündigte unter anderem eine Personalaufstockung und einen externen Telefonservice zur Entlastung der Mitarbeiter*innen und Beschleunigung der Verfahren an. Zudem wurde in der Zwischenzeit das sogenannte Business Immigration Office eingerichtet. Darin werden laut Sprecherin der MA 35, Karin Jakubowicz, internationale Fachkräfte, Unternehmen, Organisationen sowie Forschungs- und Bildungseinrichtungen zu Anträgen auf Aufenthaltstitel sowie Beschäftigungs- und Aufenthaltsrecht von 22 Mitarbeiter*innen der MA 35 und drei der Wirtschaftsagentur mehrsprachig beraten. „Es ist nachvollziehbar, dass die Stadt Wien wirtschaftliches Interesse an dieser Art von Einwanderung hat“, meint „Migrants in Vienna“-Gründerin Dvir. „Aber es gibt noch so viele andere Betroffene, für die muss es auch Verbesserungen geben.“
Kleine Schritte
In letzter Zeit hätten sich kleine Dinge verändert, das Telefon werde jetzt tatsächlich abgehoben. „Das Problem mit dem Telefonservice-Center ist aber, dass die Personen, die dort abheben, keine genaue Akteneinsicht haben. Das heißt, sie können nur notieren und weitergeben. So werden die Anträge auch nicht schneller bearbeitet“, meint Dvir.
Die 25 zusätzlichen Mitarbeiter*innen seien ein Tropfen auf dem heißen Stein. Man müsse die Behörde digitalisieren, lautet eine der Forderungen von „Migrants in Vienna“. „Wir würden uns eine Art gläsernen Akt – natürlich unter strengen Datenschutzauflagen – wünschen, sodass man etwa am Anfang des Verfahrens eine Art Verfolgungsnummer bekommt und man immer wieder reinschauen kann, ob noch etwas fehlt, und wie der Bearbeitungsstand gerade ist. Ähnlich wie bei der Nachverfolgung eines Paketes“, so Dvir. Auf diese Weise könnten auch die Sachbearbeiter*innen intern alarmiert werden, wenn eine Frist ablaufe. „Momentan scheint es, als habe niemand eine Ahnung, dass unsere Akten existieren, da alle in Papierform sind, und so der Zugriff erschwert ist.“ Wiederkehr versicherte den Sprecherinnen von „Migrants in Vienna“ an einem Verfahren zu arbeiten, um dringende Anliegen mit verstreichenden Fristen zu priorisieren.
Sigal Dvir gründete die Facebook-Gruppe „Demonstration MA 35“ bzw. „Migrants in Vienna“. Mittlerweile zählt die Gruppe 2.000 Mitglieder.
Weitere Forderungen der Gruppe sind die Einhaltung der gesetzlichen Fristen sowie mehrsprachige Beratungen. Als Pavel seinen Antrag einreichte, schrie ihn der Mitarbeiter auf Deutsch an, da er auf einem Formular die falsche Box angekreuzt hatte. „Es war ein herabwürdigendes Erlebnis, ich sprach damals kaum Deutsch.“
Wiederkehr versicherte, dass es keinen Grund gebe, dass die Beamt*innen nicht auch eine andere Sprache außer Deutsch sprechen. Was Dvir bei dem Treffen mit dem Vizebürgermeister überraschte, war die Information, dass Mitarbeiter*innen bereits an Antirassismus-Programmen und Schulungen teilnehmen würden. „Mich wundert das bei so vielen Berichten von Rassismus und menschenverachtendem Verhalten, die wir zu Ohren bekommen“, meint Dvir.
Auf Anfrage von MO erklärt Karin Jakubowicz, Sprecherin der MA 35, dass seit 2017 alle neuen Mitarbeiter*innen im Zuge der Einschulungsphase verpflichtend Schulungen zu Antidiskriminierung, Diversität, Gleichbehandlung, De-Eskalation und Umgang mit Kund*innen zu absolvieren hätten. Und: „Neben jährlich verpflichtenden Fortbildungen finden laufend Fortbildungen zu unterschiedlichsten Themen statt.“
Bisher scheinen die Schulungen jedoch noch wenig zu fruchten. „Der Kontakt mit der MA 35 lässt mich immer wieder zweifeln, ob es die richtige Entscheidung war, mich in Österreich niederzulassen“, sagt Pavel. Abgesehen davon sei Wien, die Stadt der Musik, aber der richtige Ort für ihn.
So auch für Sigal Dvir, die vor einer weiteren Demonstration die Situation zunächst weiter beobachten und eine Chance zur Verbesserung geben möchte. Auch, wenn die Beschwerden in der Facebook-Gruppe nicht abebben.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo