
Laudatio anlässlich der Verleihung des Ute Bock Preises für Zivilcourage 2011
Am 3. November 2011 wurde an Robert Zahrl und die Anti-AbschiebeaktivistInnen Jo, Alex, Isa und Billi der Ute Bock Preis für Zivilcourage verliehen. Hier die Laudatio des Menschenrechtsexperten Prof. Manfred Nowak.
"Empört Euch!“, rief der 93-jährige Stephane Hessel letztes Jahr den Jüngeren zu und ahnte nicht, dass er mit seiner Streitschrift zur Galionsfigur einer sich weltweit formierenden Widerstandsbewegung gegen die Macht des Finanzkapitalismus, das materialistische Maximierungsdenken und die damit verbundene Umweltzerstörung auf unserem Planeten, die globale Ungerechtigkeit und die politischen Unzulänglichkeiten unserer globalen Gesellschaft einschließlich des Umgangs mit Flüchtlingen und MigrantInnen geworden ist. Der spätere franzosische Diplomat und gebürtige Berliner war Mitglied der Resistance, hat das KZ Buchenwald überlebt und hat sein neu geschenktes Leben dem Aufbau einer friedlichen, sozial gerechten und an den Werten der Menschenrechte und der Demokratie orientierten Nachkriegsordnung gewidmet. Genau diese Werte sieht er, der noch selbst im Rahmen der Vereinten Nationen an der Formulierung der Universellen Erklärung der Menschenrechte 1948 mitgewirkt hat, heute durch die Diktatur des Finanzkapitalismus in ihren Grundfesten bedroht und ruft daher zum friedlichen Widerstand auf: .Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen: „Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir auf sie stolz sein können: nicht diese Gesellschaft der in die Illegalität Gedrängten, der Abschiebungen, des Misstrauens gegen Zuwanderer, in der die Sicherung des Alters, die Leistungen der Sozialversicherung brüchig geworden sind, in der die Reichen die Medien beherrschen.“
Es scheint, dass sein Aufruf auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Vom arabischen Frühling, der manch kleptokratische Diktatoren Nordafrikas in den vergangenen Monaten zu Fall gebracht hat, über die Occupy Wall Street-Bewegung und weltweite Proteste gegen die Macht der Banken, bis hin zu globalen Aktionstagen, an denen die Menschen in allen Regionen unserer Welt gleichzeitig gegen die Gier des Finanzkapitalismus und sonstiger durch die Privatisierung und Deregulierung des Neoliberalismus entfesselter globaler Markte demonstrieren. In Artikel 28 der Universellen Erklärung der Menschenrechte 1948 haben deren Autoren die Vision einer Welt beschrieben, in der neue Weltkriege, Barbarei und Armut vermieden werden konnten: den Aufbau einer sozialen Weltordnung, in der alle Menschenrechte, die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte ebenso wie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit und einen angemessenen Lebensstandard für alle Menschen dieser einen Welt durch entsprechende Strukturen gesichert werden. Im Kalten Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus war diese Vision vorerst auf Eis gelegt. Aber mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa tat sich 1989 die einzigartige Möglichkeit auf, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zur Verwirklichung aller Menschenrechte für alle, wie wir auf der Wiener Weltkonferenz über Menschenrechte 1993 forderten, einzuschlagen. Der Westen hat diese einmalige Chance vertan. Der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher entfesselte Neoliberalismus mit seinem Deregulierungs- und Privatisierungswahn hat den Zerfall der kommunistischen Regime in Europa nicht für den Aufbau von etwas Neuem genutzt, sondern in einen Triumphzug des schrankenlosen globalen Kapitalismus ausarten lassen, der verantwortungslose Politiker wie George W. Bush, Silvio Berlusconi und viele andere an die Macht gespult hat. Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen dieser Politik, die uns schnurstracks in globale Immobilien-, Finanz-, Banken-, Nahrungsmittel- und sonstige Wirtschaftskrisen geführt hat.
Dieses offensichtliche Scheitern des globalen Kapitalismus eröffnet aber auch eine neue Chance für ein grundsätzliches Umdenken. Aber wie lassen sich die vom Zauberlehrling entfesselten Kräfte wieder in die Flasche zurückzwingen, bevor alles explodiert? Die heute an den Schalthebeln der Macht sitzenden Politiker machen leider nicht den Eindruck, dass sie dieser Herausforderung gewachsen waren. Sie wirken eher wie resignierende Feuerwehrleute, die zwar an den Rändern eines Grosbrandes mit ein paar Wassereimern stehen, aber die Hoffnung, den Brand selbst loschen zu können, schon aufgegeben haben. Sie verwalten die Krise und erinnern ein bisschen an jene Politiker Osteuropas, die das zerfallende Sowjetreich in den späten 1980er Jahren weiter verwalten wollten.
Wie damals der eigentliche Wind der Veränderung von der Zivilgesellschaft der „samtenen Revolutionen“ kam, so geht er auch im Arabischen Frühling und anderen revolutionären Bewegungen dieses neuen Jahrzehnts von der Straße aus. Um nochmals Stephane Hessel zu zitieren: „Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden!“
Genau das haben Robert Zahrl und die vier Anti-AbschiebeaktivistInnen Jo, Alex, Isa und Billi getan. Sie haben durch ihre Solidarität, Zivilcourage und ihren Widerstand einen anderen jungen Menschen aus dem afrikanischen Guinea davor gerettet, von den österreichischen Behörden in Verletzung seiner Menschenrechte nach Guinea abgeschoben zu werden. Ousmane Camara, der dank dieser Menschen heute Abend ebenfalls unter uns ist, hat sich wahrend seines Studiums in Conakry in der Studentenbewegung engagiert, die ursprünglich für die Verbesserung der Studienbedingungen und später für den Sturz der Diktatur von General Lansana Conte auf die Barrikaden gestiegen ist. Für sein Engagement ist Ousmane von der Geheimpolizei festgenommen und auf brutalste Weise gefoltert worden. Im Jänner 2007 gelang ihm die Flucht nach Europa, und er suchte in Osterreich um politisches Asyl an. Aber sein Antrag wurde, wie so viele andere, von österreichischen Beamten, die mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie in Guinea gewesen waren, vielleicht zum ersten Mal von diesem Land gehört haben, wegen Unglaubwürdigkeit abgewiesen. Er kehrte unter anderem Namen in seine Heimat zurück, wurde jedoch erkannt und neuerlich verfolgt. Also floh er wieder nach Europa, suchte aber diesmal in Großbritannien um Asyl an. Im August 2010 wurde er nach der Logik des europäischen Asylsystems von Großbritannien wieder nach Osterreich überstellt, wo er trotz eines neuerlichen Asylantrags sofort in Schubhaft genommen wurde. Ohne sich wirklich mit den Fluchtgründen und dem Schicksal Ousmane Camaras auseinanderzusetzen, wurde auch sein zweiter Asylantrag im Schnellverfahren wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und seine Abschiebung nach Guinea vorbereitet. Er hatte große Angst, in seinem Heimatland erneut gefoltert oder sogar ermordet zu werden, aber er hatte wie andere Schubhäftlinge keinen Zugang zu Anwalten oder anderen Menschen, die ihm helfen konnten. Abgesehen von den Polizeibeamten, die ihn in seiner Verzweiflung wiederholt in eine Isolationszelle verlegt hatten, war sein einziger Kontakt ein Vertreter des so genannten „Vereins Menschenrechte Osterreich“, der sich in der Schubhaft als Caritas ausgibt, aber eng mit der Polizei zusammenarbeitet und die Häftlinge zu überreden sucht, „freiwillig“ und zum Teil mit falschen Versprechungen in ihre Heimatländer zurückzukehren.
Ousmane Camara wartet bereits seit mehr als zwei Monaten im Polizei-Anhaltezentrum Rossauer Lande auf seine Abschiebung, als ihm Anfang November 2010 plötzlich mit Robert Zahrl ein österreichischer Student in die Zelle gesteckt wird, der es vorgezogen hat, die 300 Euro Strafe für ein Straßenverkehrsdelikt in 126 Stunden Freiheitsstrafe einzutauschen. Endlich hat Ousmane jemanden gefunden, der franzosisch kann, und er erzahlt ihm seine ganze Leidensgeschichte. Für Robert Zahrl tut sich eine neue Welt auf. Er hatte nie gedacht, dass Menschen in Osterreich so behandelt werden, nur weil sie Ausländer sind und schwarze Hautfarbe haben. Er empört sich und beschließt, seinem neuen Freund zu helfen. Nach der Verbüßung seiner fünf Tage Ersatzfreiheitsstrafe versucht Robert unermüdlich, Einzelpersonen, Anwalte und Organisationen in Osterreich auf das tragische Schicksal von Ousmane Camara aufmerksam zu machen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten stößt sein Hilferuf schließlich auf eine breite Resonanz von Empörten und ruft eine beträchtliche Anzahl von Anti-AbschiebeaktivistInnen, darunter unsere PreisträgerInnen, auf den Plan. Mit vereinten Kräften organisieren sie in der kalten Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 2010 eine Blockade vor dem Polizei-Anhaltezentrum Rossauer Lande mit mehr als 100 Menschen, können aber nicht verhindern, dass Ousmane in derselben Nacht zum Flughafen Wien-Schwechat gebracht wird. Robert und Jo haben sich sogar Tickets für die Maschine gekauft, mit der Ousmane vorerst nach Brüssel abgeschoben werden soll. Wenn nötig, wollen sie ihn begleiten, aber lieber ist es ihnen, die Abschiebung verhindern zu können. Letzteres gelingt: Ousmane halt sich mit beiden Händen am Geländer der Stiege zum Flugzeug fest und deklariert lautstark, was er in Guinea zu erwarten hatte; die AktivistInnen unterstutzen ihn erfolgreich, sodass sich der Kapitän schließlich weigert, Ousmane gegen seinen Willen an Bord zu nehmen. Er wird von den Beamten in einen separaten Raum am Flughafen gebracht. Über das, was dort geschieht, liegen unterschiedliche Aussagen vor, deren Richtigkeit die Gerichte werden klaren müssen. Ousmane erhebt jedenfalls einen Misshandlungsvorwurf gegen die Beamten, und diese bezichtigen ihn des Widerstands gegen die Staatsgewalt und der schweren Körperverletzung. Er wird wieder in Schubhaft genommen. Aber zwei Tage später erlasst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eine einstweilige Verfugung, wonach die Abschiebung vorläufig zu unterlassen sei. Statt Ousmane aus der Schubhaft in die Freiheit zu entlassen, wird er nun als des Widerstands gegen die Staatsgewalt Beschuldigter in Untersuchungshaft genommen und in die Justizanstalt Korneuburg überstellt. Wieder gelingt es den AktivistInnen, Geld für eine Kaution zu sammeln, wodurch er am 24. Dezember 2010 freikommt und schließlich bei meinem Freund Werner Hörtner Unterschlupf findet. In der Zwischenzeit wurde auch der Verfassungsgerichtshof angerufen, der ebenfalls eine einstweilige Verfugung erließ, wonach Ousmane bis auf weiteres nicht abgeschoben werden darf.
Fur Jo, Alex, Isa und Billi war das nicht die erste Abschiebung, gegen die sie protestiert und aktiven Widerstand geleistet haben. Wie sie in ihrer „kleinen Chronologie des Widerstandes“ schreiben, gilt Ihre Solidarität „allen MigrantInnen, Flüchtlingen, Kriminalisierten, Illegalisierten, Papierlosen und Widerständigen“. Für diese politische Haltung und Aktivismus haben sie im Sommer 2010 mehrere Wochen in Untersuchungshaft verbracht, da sie das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung der Bildung einer terroristischen Vereinigung im Sinne des umstrittenen §278b StGB verdächtigt. Und gegen Ousmane selbst ist ein Verfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt anhängig. Aber der Verfassungsgerichtshof hat nun zu prüfen, ob der Widerstand gegen eine rechtswidrige Abschiebung nicht letztlich ein gerechtfertigter Widerstand ist. Denn wo Recht zu Unrecht wird, was beim Vollzug des österreichischen Fremdenrechts leider allzu oft der Fall ist, wird Widerstand bekanntlich zur Pflicht. Das gilt nicht nur für die direkt von rechtswidrigen Amtshandlungen Betroffenen, sondern auch für jene Menschen mit Zivilcourage, die sie bei ihrem Widerstand unterstützen. Für diese Zivilcourage werden Robert Zahrl, Jo, Alex, Isa und Billi heute mit dem Ute Bock Preis für Zivilcourage 2011 ausgezeichnet.
„Widerstand leisten heißt Neues schaffen“, hat uns der französische Diplomat Stéphane Hessel gelehrt. Das Neue, das in diesem Fall geschaffen werden sollte, ist die Humanisierung des Fremdenrechts und eine Rückbesinnung auf die Menschenrechte als das ethische Fundament unserer Gesellschaft. Universelle Menschenrechte, die im Prinzip für alle Menschen gleichermaßen gelten, unabhängig von ethnischer Herkunft und Hautfarbe. Die Zweiteilung zwischen EU-Bürgern mit vollen Menschenrechten und so genannten Drittstaatsangehörigen, die weitgehend entrechtet und auf Almosen angewiesen sind, wurde in der europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts schon so sehr internalisiert, dass den meisten EU-Bürgern gar nicht mehr bewusst ist, auf welch unmenschliche, erniedrigende und diskriminierende Weise unsere Regierungen Flüchtlinge und MigrantInnen behandeln. Diese Geisteshaltung gilt es zu verändern, wenn nötig mit Zivilcourage und Widerstand.
Ich gratuliere Robert Zahrl sowie Jo, Alex, Isa und Billi ganz herzlich zu dieser wichtigen Auszeichnung.
Manfred Nowak
Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte und Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien