Solidarität in Zeiten von Covid
In Zeiten der Corona-Krise erlebt der Sozialstaat eine Sternstunde. Aber wer trägt die Hauptlast der Krise? Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Verteilungsfrage in unserer Gesellschaft neu zu diskutieren. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Markus Materbauer, Illustration: Eva Vasari
Um 112.174 lag die Zahl der Arbeitslosen im Juli, dem fünften Monat der Covid19-Krise, höher als ein Jahr zuvor: Der schlimmste Anstieg der Arbeitslosigkeit seit 1945. Für die Betroffenen bringt er gewaltige Existenzsorgen. Sie verlieren bis zu 45 Prozent ihres Einkommens und die Jobaussichten verschlechtern sich auf Dauer. Besonders bei Jugendlichen, denen Covid den Einstieg ins Berufsleben vermasselt und deren Einkommen und Karrieren über viele Jahre leiden. Ältere Arbeitslose hatten es bereits vor der Krise extrem schwer, nun ist ein Wiedereinstieg in gute Jobs kaum zu schaffen. Die Langzeitbeschäftigungslosigkeit nimmt besorgniserregend zu. Bereits nach wenigen Monaten Arbeitslosigkeit steigt die Armutsgefährdung, nach einem Jahr ohne Job sind mehr als die Hälfte betroffen und die Chancen schwinden, wieder aus Armut und Arbeitslosigkeit herauszukommen. Die Covid-Krise droht nicht nur bei Langzeitarbeitslosen zu Armut zu führen, sondern auch bei deren Familien: 60 Prozent aller Kinder, in deren Haushalt eine Person langzeitarbeitslos ist, sind armutsgefährdet.
Die Arbeitslosen tragen unmittelbar die Hauptlast der Krise gemeinsam mit jenen zigtausend kleinen Selbständigen, denen Umsätze und Einkommen von einem Tag auf den anderen weggefallen sind und von denen viele in Konkurs gehen werden.
Während es den Sozialpartnern rasch gelungen ist, mithilfe der großzügigen Kurzarbeit hunderttausende Jobs zu sichern, blieb die Arbeitsmarktpolitik viel zu lange inaktiv. Erst für den Herbst sind aktive Maßnahmen angekündigt, etwa eine Arbeitsstiftung. Jugendliche brauchen aber sofort zehntausende zusätzliche Ausbildungsplätze in überbetrieblichen Lehrwerkstätten, weiterführenden Schulen, Fachhochschulen und Unis. Arbeitslose brauchen Programme zur Qualifizierung und Umschulung aus Krisenbranchen wie dem Tourismus in Zukunftsjobs in Technik, Klima, Bildung und Pflege. Die 120.000 Langzeitbeschäftigungslosen benötigen garantierte Jobs im kommunalen und gemeinnützigen Bereich. Die Krisenlasten werden besonders von Arbeitslosen und kleinen Selbständigen getragen. Das ist ungerecht. Vergleicht man Österreich insgesamt mit anderen Ländern, so zeigt sich: Wir kommen relativ gut durch die Krise. Hier bewährt sich vor allem unser Gesundheitssystem. So oft haben die SozialstaatsgegnerInnen es der Ineffizienz und Geldverschleuderung geziehen und zur Privatisierung auserkoren. Doch der Vergleich macht sicher: Die USA geben gemessen an der Wirtschaftsleistung um 70 Prozent mehr für Gesundheit aus als Österreich. Trotzdem sind dort viele Menschen nicht adäquat versorgt, Millionen verlieren in der Covid-Krise mit dem Job auch die Krankenversicherung. Gleichzeitig lassen sich manche Reiche schnell einmal für den Fall des Falles eine kleine Covid-Privatklinik bauen. Hingegen zahlen im sozialen Gesundheitsmodell Österreich alle nach Leistungsfähigkeit ein, Gesundheitssystem und Krankenversicherung bieten für die gesamte Bevölkerung eine Versorgung mit Leistungen guter Qualität. Und doch kann man immer noch besser und leistungsfähiger werden.
Gleiches gilt für das öffentliche Bildungssystem. Öffnung und Ausbau haben seit den 1970er Jahren wesentlich zu gesellschaftlicher Integration, wirtschaftlichem Erfolg und breitem Wohlstand beigetragen. In der Covid-Krise gilt es besonders jene Kinder und Jugendliche mit bildungsfernem familiären Hintergrund zu unterstützen, die durch schwieriges Homeschooling, beengte Wohnverhältnisse und Armut in ihren Entwicklungschancen beeinträchtigt sind.
Der österreichische Sozialstaat erlebt in der Krise eine Sternstunde. 69 Prozent aller Staatsausgaben fließen in Soziales, Gesundheit und Bildung.
Besonders hilft in der Krise auch das Modell der Arbeitslosenversicherung für unselbständig Erwerbstätige: Verliert man den Job, so erfolgt verlässlich die Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Das symbolisiert den verlässlichen Sozialstaat. Weitere Verbesserungen sind sinnvoll, etwa das Arbeitslosengeld von 55 Prozent des letzten Nettoeinkommens auf 70 Prozent zu erhöhen, um Armut zu verhindern. Sinnvoll wäre die Einführung einer ähnlichen sozialen Pflichtversicherung für Selbständige mit leistungsabhängigen Beiträgen und promptem Versicherungsschutz statt monatelangem Warten auf unzureichende Almosen.
Der österreichische Sozialstaat erlebt in der Krise eine Sternstunde. 69 Prozent aller Staatsausgaben fließen in Soziales, Gesundheit und Bildung. Dieser starke Sozialstaat gibt Wohlstand, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle. Die Sozialstaatsgegner*innen erklären ihn gerne für verkrustet, bankrott und reformunfähig, sie sprechen von Pensionsbomben und Steuerexzessen und empfehlen den Abbau von Sozialleistungen, Kürzungen von Mitteln auch für die Ärmsten, darunter Langzeitarbeitslose, um Steuersenkungen für die Reichen finanzieren zu können. Doch in der Krise sind sie auffällig still.
Jetzt wollen sie nicht als Sozialstaatsgegner*in dastehen und in eine Verteilungsdebatte geraten. Doch genau diese Verteilungsdebatte ist überfällig. Es ist falsch, wenn die Hauptlast der Krise von den hunderttausenden Arbeitslosen und Ein-Personen-Unternehmen, von Kindern und Jugendlichen getragen wird. Die Krisenlasten können leichter von den wirtschaftlich Starken geschultert werden. Vermögende, ErbInnen, SpitzenverdienerInnen sind wenig von der Krise betroffen. Sie müssen gerade in dieser schwierigen Zeit mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens und des Sozialstaates leisten. Progressive Abgaben auf hohe Vermögen, Erbschaften und Einkommen können jährlich ein Milliardenaufkommen für die Finanzierung sozialer Leistungen bringen. Gleichzeitig können so die immensen Gefahren eingedämmt werden, die vom Überreichtum auf Gesellschaft und Demokratie ausgehen. Etwa wenn MilliardärInnen über ihren Einfluss auf Medien die Berichterstattung beeinflussen, über Parteispenden politische Entscheidungen zu ihren Gunsten drehen oder über die Finanzierung von Think Tanks Vermögenssteuern verhindern und Druck auf Kürzungen im Sozialstaat machen.
Die Krisenlasten können leichter von den wirtschaftlich Starken geschultert werden.
Jetzt ist die Zeit, den Sozialstaat zu verbessern. Dabei geht es auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der im Sozialbereich Beschäftigten. Diese leisten harte Arbeit, die zu wenig Anerkennung findet. Das Gehaltsniveau in Pflege oder Kindergärten bleibt zum Teil deutlich hinter Büro- oder Industriejobs zurück. Bessere Arbeitsbedingungen betreffen verlässliche Dienstpläne, ausreichende Personalausstattung, kürzere Arbeits- und mehr Erholungszeiten. Beteiligungsmöglichkeit an der Gestaltung von Arbeit, Politik und Gesellschaft müssen verbessert werden, im Fall vieler ausländischer Beschäftigter im Sozialbereich betrifft das auch Staatsbürgerschaft und Wahlrecht. Das wäre Gerechtigkeit für die HeldInnen der Covid-Krise.
Die Covid-Krise lässt uns alle individuelle Verwundbarkeit spüren. Wir sind auf die Hilfe und Solidarität in der Gesellschaft angewiesen. Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Beschäftigten und Arbeitslosen, Jungen und Alten, zwischen wirtschaftlich Starken und Schwachen, im Sozialstaat und über die nationalen Grenzen hinaus, gegenüber den gesundheitlich am schwersten getroffenen Regionen sowie den vergessenen Geflüchteten.
Markus Marterbauer leitet die Wirtschaftswissenschaft in der Arbeiterkammer Wien, er ist Vizepräsident des Fiskalrates, Experte im Budgetausschuss des Nationalrates und Mitglied des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen. Twitter: @MarterbauerM 2011 erschien sein Buch: „Zahlen bitte! Die Kosten der Krise tragen wir alle“ im Deuticke Verlag.
Lesetipp: Gerechtigkeit für die wahren Leistungsträger. https://wien. arbeiterkammer.at/interessenvertretung/ arbeitsmarkt/Gerechtigkeit_fuer_die_ wahren_LeistungstraegerInnen.html
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