Soziales Rezept
POPULÄR GESEHEN. Warum Ärztinnen und Ärzte „soziale Rezepte“ ausstellen können sollten.
Kolumne: Martin Schenk.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
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Die junge Frau atmet schwer, kann kaum schlafen und durchlebt Phasen tiefer Todtraurigkeit. Sie wird medizinisch untersucht und gut versorgt. Das Schreckliche, das sie erleiden musste, hat sich in ihren Körper eingeschrieben. Ein Kollege, der das Anamnese-Gespräch mit der traumatisierten Patientin führt, erfährt, wie gerne sie Lieder singt, wie wichtig Musik für sie ist. So hat er die Idee, die Frau zu fragen, ob sie nicht in einem Chor singen wolle? Ob er schauen solle, wo es in ihrer Nähe Singgruppen gäbe? Die Patientin ist sich nicht ganz sicher, wagt sich aber dann doch zur ersten Chorprobe. Das Singen tut ihr gut. Da geht es ums richtige Atmen, ums Luft holen und zum Klingen bringen. „Ich fühle wieder Freude, das gemeinsame Singen ist so befreiend“, erzählt sie.
Aus der Forschung zu den sozialen Determinanten der Gesundheit – also der Frage, was gesund hält – wissen wir heute, dass psychosoziale Maßnahmen die Lebensqualität um bis zu 70 Prozent verbessern können – und auch einen bedeutenden Anteil an der Genesung haben. Ärzte und Ärztinnen könnten ein „soziales Rezept“ ausstellen. Damit verschaffen sie Patient:innen Zugang zu einer Reihe von sozialstaatlichen wie sozialen Dienstleistungen oder auch selbstorganisierten Angeboten im Grätzel. Das Singen im Chor wäre eine solche soziale Verschreibung. Sie könnten als Patient:in aber auch ein Rezept für einen Theaterbesuch oder eine geführte Wanderung erhalten. Jede:r fünfte Patient:in sucht den Hausarzt nicht in erster Linie wegen eines medizinischen, sondern wegen eines sozialen Problems auf. Da geht es um Einsamkeit, finanzielle Not oder Arbeitslosigkeit. Die soziale Verschreibung müsste sich hier um die Beantragung von Sozialleistungen oder die Verbesserung der Wohnsituation kümmern. Dort, wo es „social prescribing“ gibt, wird ein „Linkworker“ eingesetzt, der die Vermittlungsarbeit leistet. Verlinken heißt Verbinden. Die Ärztin überweist zum Linkworker, der dann mit dem Patienten die konkrete soziale Verschreibung entwickelt und organisiert. Das österreichische Sozialstaatsmodell trennt traditionell in „Cure“ und „Care“, ins Medizinische und ins Soziale. Diese Spaltung führt zu sich gegenüberstehenden Systemen in Finanzierung und Organisation. Das gilt es zu überwinden.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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