Staatsangehörigkeit: staatenlos
Nur Staatsbürger*innen haben das Recht, Rechte zu haben, das wusste schon die Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt. Wer keine hat, bleibt auf der Strecke. Was das mit der Demokratie macht und warum Staatenlose in der Debatte oft ausgeklammert werden. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Eva Rottensteiner, Illustration: P.M. Hoffmann
Als Helmut Müller zum ersten Mal erfährt, dass er staatenlos ist, redet ein Beamter wütend auf ihn ein und droht ihm mit einer Anzeige. Eigentlich sollte er nur seinen erneuerten Ausweis abholen, weil er bald heiraten würde. Illegal sei er gewesen die ganzen Jahre über in Oberösterreich. Keine Arbeitsgenehmigung, keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Recht auf einen Ausweis. Den habe er sich erschlichen. „Ich habe mich wie ein Verbrecher gefühlt“, meint Müller, als er von dem Tag erzählt, der alles veränderte. Helmut Müller ist staatenlos. Und damit ist er nicht allein. Die UNHCR schätzt die Zahl der Menschen ohne Staatsbürgerschaft weltweit auf 10 Millionen, 600.000 davon in Europa. Die Ursachen für Staatenlosigkeit sind vielfältig und unterscheiden sich je nach rechtlichem und politischem Rahmen eines Staates.
Staatenlosen passiert es oft, dass sie ihre Staatenlosigkeit aufgrund mangelnder Dokumente nicht beweisen können. Man denke an Afghanistan: Wer würde dort einen Beweis erhalten?
Müller hat seine Staatenlosigkeit geerbt. Seiner Mutter wurde ihre rumänische Staatsbürgerschaft aberkannt, nachdem sie während dem Krieg aus Rumänien geflohen war. Sein Vater ist dann gemeinsam mit ihr aus dem damaligen Sudentenland geflohen, aus dem sie 1945 vertrieben wurden. Im Zuge dessen wurde auch Müllers Vater die Staatsbürgerschaft entzogen. Allerdings geht die Republik Österreich bis heute davon aus, dass die Mutter noch ihre rumänische Staatsbürgerschaft hat und Müller somit ein Anrecht auf diese habe. Staatenlosen passiert es oft, dass sie ihre Staatenlosigkeit aufgrund mangelnder Dokumente nicht beweisen können. In Österreich behandelte man die Familie somit jahrzehntelang wie Geflüchtete. Bis Müller an jenem Tag eines Besseren belehrt wurde.
Staatenlosigkeit hat viele Gesichter
Man kann also staatenlos geboren werden, oder die Staatsbürgerschaft im Laufe seines Lebens, beispielsweise durch rechtliche Lücken oder Vertreibung und Diskriminierung, verlieren. Völkerrechtlich ist das zwar nicht zulässig und doch passiert es bis heute. Während der NS-Zeit wurden jüdische Menschen systematisch ausgebürgert, so auch Hannah Arendt, die für einige Jahre staatenlos war und ihre Erfahrungen in einem Text verschriftlicht hat. Heute werden die Rohingya in Myanmar vertrieben und das Verwehren der Staatsbürgerschaft macht eine ganze Ethnie zu Staatenlosen. Es gibt auch geschlechtsspezifische Gründe für Staatenlosigkeit in manchen Staaten.
Birgit Einzenberger, Leiterin der Rechtsabteilung der UNHCR Österreich, kritisiert die Datenlage in Österreich.
Laut einem aktuellen Bericht des UNHCR gibt es immer noch Länder, in denen es nur Männern erlaubt ist, ein Kind zu registrieren. Auch uneheliche Kinder sind in manchen Ländern noch ein Problem, weshalb gerade diese oft nicht registriert werden und dadurch besonders gefährdet sind. Ein anderer Grund ist der Zerfall einer Nation wie der Sowjetunion, Jugoslawien oder der heutige Südsudan, ebenso wie die mangelnde Registrierung von Geburten bei nomadischen Völkern oder in Krisenregionen, die einen Nachweis der eigenen Herkunft erschweren und das Risiko für Staatenlosigkeit erhöhen.
Wer keinem Staat angehört, spürt das auch im Alltag. Betroffene haben vielfach keinen legalen Aufenthaltsstatus, dürfen nicht arbeiten, haben keinen Zugang zu Gesundheits- oder anderen Sozialleistungen, können weder reisen noch ihr eigenes Bankkonto haben.
Lücken in der Rechtslage
Österreich zählte 2020 laut Staatenlosigkeits-Index des European Network on Statelessness (ENS) 4.255 staatenlose Menschen, weitere 745 mit unbekannter und ganze 12.025 Menschen mit ungeklärter Staatsbürgerschaft. Probleme gibt es in Österreich in Punkto Staatenlosigkeit einige, wie Birgit Einzenberger, Leiterin der Rechtsabteilung der UNHCR Österreich erklärt. Die UNHCR befasst sich mit dem Thema Staatenlosigkeit auf multilateraler Ebene und hat 2014 eine internationale Kampagne gestartet mit dem Slogan „I belong“ (Ich gehöre dazu). Das Ziel: bis 2024 soll es keine Staatenlosigkeit mehr geben.
Migrationsexpertin Permoser zur österreichischen Linie: „Es ergibt demokratiepolitisch keinen Sinn, Hürden nur mit dem Zweck zu platzieren, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erschweren.“
Einzenberger kritisiert die prekäre Datenlage in Österreich. Es gäbe zwar Zahlen, welche aber lediglich die registrierten Personen widerspiegeln. Außerdem haben Staatenlose in Österreich nicht per se Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Abgeschoben werden können die meisten trotzdem nicht. Wohin auch, viele sind schon in Österreich geboren und aufgewachsen. Sobald klar wird, dass eine Person nicht abgeschoben werden kann, erhält sie eine Duldung. Das ist noch immer kein Aufenthaltsrecht. Man darf weiterhin nicht arbeiten und hat keinen Anspruch auf einen Ausweis. Nach einem Jahr der Duldung können Betroffene dann endlich eine Aufenthaltsgenehmigung kriegen. „Es ist ein sehr prekärer Weg, den staatenlose Menschen in Österreich gehen müssen, sofern sie nicht aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht haben. Auch den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft hat Österreich nie umgesetzt“, sagt Einzenberger dazu.
Gemäß dem Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 sollte man gerade staatenlosen Kindern besonders großzügig begegnen. Österreich ermöglicht staatenlos geborenen Kindern allerdings nur ein Fenster von zwei Jahren, zwischen 18 und 20, in dem sie erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft haben. Doch viele junge Erwachsene wissen nicht vom Angebot, kaum wer macht davon Gebrauch. Kinder so lange in der Ungewissheit zu lassen, verstößt eigentlich gegen die UN-Kinderrechtskonvention, wonach jedes Kind Recht auf eine Staatsangehörigkeit hat. Auch Helmut Müller wusste nichts von dem Zeitfenster. Darüber hat ihn und seine Eltern niemand informiert. Generell scheint in Österreich kaum jemand über Staatenlosigkeit informiert zu sein. Das zieht sich auch durch die staatlichen Behörden.
Und weil es keine einheitlichen Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit gibt, werden die Begriffe in der Praxis unterschiedlich ausgelegt. So bleibt vielen Betroffenen der Zugang zu internationalen Rechten für Staatenlose verwehrt, weil sie nicht als solche eingestuft werden. Menschen wie Helmut Müller müssen dann in dieser irregulären Situation ausharren. Man fällt so lange aus dem System raus, bis man die Duldung erhält. Sechs Monate lang war diese irreguläre Situation bei Müller. Sechs Monate Verzweiflung und Kopfzerbrechen, wie die Miete bezahlen und die Kinder ernähren. Er hätte Arbeit gehabt, aber durfte nicht anfangen. Er hätte Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt, aber durfte das Geld nicht empfangen. Dadurch hätte er ein Recht auf Sozialhilfe gehabt, doch die Behörden haben lediglich auf das Arbeitslosengeld verwiesen. Gerettet hat Müller nur ein Zufall, als einem Beamten aufgefallen ist, dass er schon durch seine Heirat mit einer österreichischen Staatsbürgerin und die gemeinsame Familie Zugang zur Aufenthaltsgenehmigung hat.
Helmut Müller darf jetzt dauerhaft in Österreich bleiben, staatenlos ist er aber noch immer.
Mehr Demokratie für die Hiergeborenen
Die UNHCR hat schon 2014 eine Reihe an Empfehlungen formuliert, die Staatenlosen in Österreich zugutekommen. Darunter ist die Forderung eines einheitlichen Verfahrens, für welches sie sogar bereits ein Handbuch formuliert haben. Darüber hinaus wird die Einrichtung einer zentralen Behörde gefordert, die sich mit verschiedenen Staatsbürgerschaftsgesetzen auskennt und sich um staatenlose Menschen kümmert. Außerdem soll staatenlosen Kindern und Jugendlichen die rasche Einbürgerung ermöglicht werden.
Das fordert auch SOS Mitmensch mit der aktuellen Petition „#hiergeboren“, welche die Einbürgerungshürden als Diskriminierung bezeichnet und gerade für die hiergeborenen Kinder eine automatische Einbürgerung durch Geburt vorsieht. Das sei wichtig, damit sie nicht als Fremde gelten und sich am demokratischen System beteiligen können, so die Menschenrechtsorganisation. Gerade für junge Menschen sei eine fehlende Staatszugehörigkeit prägend, wie die Politikwissenschaftlerin und Expertin für Migration und Demokratie Julia Mourão Permoser betont: „Wenn man sein gesamtes Leben in einem Land verbracht hat, in dem man nicht als vollwertiges Mitglied behandelt wird, hat das Einfluss darauf, ob man sich zugehörig und mitbeteiligt fühlt. Das ist wichtig für die politische Kultur des Landes und die Demokratie als solche“.
Wenn man in einem Staatsgefüge also Menschen ohne Zugang zu den Rechten in diesem Staat hat, ist das nicht nur problematisch für die Betroffenen selbst. Es stellt auch die Legitimität dieses demokratischen Systems infrage. Mourão Permoser geht noch weiter und spricht von einem Problem für die gesamte internationale Gemeinschaft: „Staatenlosigkeit ist eine Anomalie, etwas das in dieser Weltordnung nicht passieren sollte.“ Diese Ordnung basiert darauf, dass man eine Staatsbürgerschaft hat, die einer gewissen Schublade (einem Nationalstaat) zugeordnet werden kann. Aktuell sei das Verständnis von Staatsbürgerschaft in Österreich noch sehr ethnisch geprägt und es schwinge auch Angst mit, dass man die vorhandenen Ressourcen mit mehr Menschen teilen muss.
Doch für die Forscherin ist klar, dass wir uns als Gesellschaft fragen müssen, wie wir Staatsbürgerschaften künftig regeln möchten. Gerade in einem Land wie Österreich, das laut MIPEX von 52 teilnehmenden Ländern den restriktivsten Zugang zur Einbürgerung hat, gleichauf mit Bulgarien, scheint diese Frage hochaktuell. Mourão Permoser vertritt zur bisherigen österreichischen Linie eine klare Meinung: „Es ergibt aus demokratiepolitischer Perspektive keinen Sinn, hier Hürden zu platzieren nur mit dem Zweck, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erschweren. Es ist im Interesse eines demokratischen Staates, dass alle, die dort auch künftig über Generationen wohnhaft bleiben wollen, ein Recht auf Mitbestimmung haben.“
Helmut Müller darf zwar jetzt dauerhaft legal in Österreich bleiben, staatenlos ist er aber noch immer. Die finanzielle Hürde war bisher einfach zu hoch und wird es wohl auch bleiben. Müller ist aus gesundheitlichen Gründen mittlerweile arbeitsunfähig. Seine Invaliditätspension reicht gerade für seine Miete und die Alimente für seine Tochter. „Ich habe aufgegeben. Ich bin hier geboren und habe nie woanders gelebt. Zu den Ländern meiner Eltern habe ich keinen Bezug. Ich fühle mich als Österreicher, das habe ich schon immer. Was ändert da schon ein Blatt Papier?“
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