
Dr. Valchars: „Die Demokratie ist in Schieflage geraten“
Der Politikwissenschaftler Dr. Gerd Valchars publizierte kürzlich eine Buch zum Themenkomplex Migration und Staatsbürgerschaft (gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Rainer Bauböck) und attestiert der österreichischen Demokratie in diesem Zusammenhang ein „gravierendes Repräsentations- und Legitimationsdefizit“. Im Folgenden sein Statement zur Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch:
Die Demokratie ist in Schieflage geraten
„Schon die Zahlen alleine sprechen eine deutliche Sprache: Mittlerweile sind es 1,4 Millionen Menschen – 18 Prozent der Bevölkerung über 16 – die in Österreich leben, aber hier nicht wahlberechtigt sind. In Wien ist sogar beinahe ein Drittel der Stadtbevölkerung im Wahlalter vom Wahlrecht ausgeschlossen – mehr als 500.000 Wiener*innen. Tendenz stark steigend: In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Zahl der Nicht-Wahlberechtigten in Österreich beinahe verdoppelt und auch für die Zukunft ist bei unveränderten rechtlichen Rahmenbedingungen von keinem Ende oder gar einer Umkehr dieser Entwicklung auszugehen.
Enge Verknüpfung des Wahlrechts mit der Staatsbürgerschaft
Der Grund für diesen fortschreitenden Demokratieverlust ist in dem stark restriktiven, hürdenreichen österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht und der engen Verknüpfung des Wahlrechts mit der Staatsbürgerschaft zu suchen. Letzteres ist bei landesweiten Wahlen wie Parlamentswahlen oder bei direkten Wahlen des Staatsoberhaupts international nichts Außergewöhnliches. In den meisten Ländern sind bei solchen Wahlen nur die Staatsbürger*innen dieser Länder wahlberechtigt. Anders ist das bei kommunalen Wahlen, bei Wahlen in Städten und Gemeinden, wo im Unterschied zu Österreich in vielen Ländern auch Nicht-Staatsbürger*innen wahlberechtigt sind.
Kein Land Europas hat ein restriktiveres Gesetz
Worin sich Österreich aber ganz deutlich von anderen Ländern unterscheidet, und was die Situation hierzulande so prekär macht, ist sein Staatsbürgerschaftsrecht. Kein Land Europas hat ein restriktiveres Gesetz, nirgendwo sonst ist es für Zuwander*innen und deren Kinder so schwierig, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Und kaum wo sonst in Europa liegen die Einbürgerungszahlen niedriger als hierzulande.
Wer über keine Stimme verfügt, ist politisch machtlos
Dieses restriktive und stark ausschließende österreichische Staatsbürgerschaftsgesetz reißt ein riesiges Loch in das österreichische politische System. Nicht-wahlberechtigte Menschen sind von demokratischen Entscheidungen, die sie selbst unmittelbar betreffen, ausgeschlossen. Die Stimme ist die einzige Währung, die am politischen Markt Gewicht hat. Die Stimmabgabe ist die Möglichkeit, politische Präferenzen zu artikulieren, auf eigene Anliegen und Interessen aufmerksam zu machen, an gemeinsamen Entscheidungen mitzuwirken, politisches Fehlverhalten zu sanktionieren und die Geschicke des Landes mitzugestalten. Wer über keine Stimme verfügt, ist politisch machtlos und dem wird nach der Marktlogik von Parteien und Kandidat*innen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Interessen bleiben unberücksichtigt, Anliegen werden nicht repräsentiert. Politik wird für andere gemacht.
Mehr als die Bevölkerung der Steiermark
All das gilt, wie eingangs erwähnt, für 1,4 Millionen Menschen in Österreich – das ist mehr als die Bevölkerung der Steiermark, dem viertgrößten Bundesland Österreichs. Für die Demokratie bedeutet dieses Auseinanderklaffen von Wohn- und Wahlbevölkerung und die dadurch entstandene Wahlrechtslücke ein gravierendes Repräsentations- und Legitimationsdefizit.
Ganze Bevölkerungsgruppen unterrepräsentiert
Der individuelle Ausschluss vom Wahlrecht führt aber nicht nur dazu, dass einzelne Betroffene selbst stimmlos sind und politisch unberücksichtigt bleiben. Er führt auch dazu, dass ganze Bevölkerungsgruppen, Regionen und Stadteile im politischen Geschehen unterrepräsentiert sind. Der Wahlrechtsausschluss durch die Staatsbürgerschaft verteilt sich stark unterschiedlich auf die Bevölkerung. Besonders betroffen sind zum Beispiel Jüngere, Städter*innen, Menschen mit niedrigeren Einkommen, Arbeitnehmer*innen in bestimmten Branchen und Berufen oder generell Arbeiter*innen. All diese Gruppen sind daher politisch unterrepräsentiert, sie haben weniger Gewicht und damit auch weniger politische Macht und weniger Einfluss auf die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und die gemeinsamen Entscheidungen. Wer in Innsbruck, Salzburg oder Wien lebt, wer unter 44 ist oder ein geringes Einkommen hat, ist vom Wahlrechtsausschluss betroffen –egal, ob er oder sie selbst wahlberechtigt ist oder nicht. Die Demokratie ist in Schieflage geraten; sie ist kein Abbild der Gesellschaft mehr, sondern ein stark verzerrtes Spiegelbild.
Lösung kann ganz einfach sein
Die Lösung für dieses Problem kann ganz einfach sein. Wer die Öffnung des Wahlrechts für Nicht-Staatsangehörige ablehnt, muss dafür sorgen, dass all jenen, die im Land leben, der Zugang zur Staatsbürgerschaft offensteht. Nur so kann das verloren gegangene allgemeine Wahlrecht wieder hergestellt und das Repräsentations- und Legitimationsdefizit der Demokratie korrigiert werden. Wer jedoch Hürden beim Zugang zur Staatsbürgerschaft aufbaut, baut Hürden zum Wahlrecht auf und die Demokratie ab."
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