Handlungsbedarf: Rückkehr der Gesprächsbasis
Unter Türkis-Blau herrschte meist eisige Stille zwischen der Regierung und Menschenrechtsorganisationen. Unter Kanzlerin Bierlein wurde das Eis wieder gebrochen. Doch was kommt nach der Wahl? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Alexander Pollak, Illustration: Petja Dimitrova
Ende Juli traf sich Innenminister Wolfgang Peschorn mit VertreterInnen von neun Asyl- und Menschenrechtsorganisationen. Die Atmosphäre war respektvoll. Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden. Es berührte eine Reihe an aktuellen Themen: beginnend mit der Rettung von Menschen im Mittelmeer über den Stopp der Ab-schiebung von Lehrlingen bis zu den Sorgen betreffend die geplante Verstaatlichung der Betreuung von Asylsuchenden. Vorschläge und Wünsche wurden auf den Tisch gelegt, Gemeinsamkeiten und Differenzen diskutiert.
Das Besondere an dem Gespräch war: Unter der Vorgängerregierung wäre es undenkbar gewesen. Innenminister Herbert Kickl ließ Personen und Organisationen, die sich für Menschenrechte engagieren, spüren, dass er keinerlei Interesse an Kommunikation mit ihnen hatte. Selbst große Organisationen erhielten keinen Termin bei ihm, und dort, wo doch Gespräche stattfanden, glichen sie mehr einem Diktat als einem Austausch.
Mit der von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein geführten Regierung ist die Gesprächsbasis zurückgekehrt. Mehr noch, es ist das Interesse am Wissen und an den Lösungsvorschlägen von ExpertInnen und PraktikerInnen zurückgekehrt. Denn es sind genau diese AkteurInnen, die wissen, wo der Schuh drückt, wo es Härtefälle gibt, wo von der jetzigen Politik individuelles Leid produziert und gesellschaftlichen Schaden angerichtet wird. Niemand sonst verleiht Menschen, die in der Öffentlichkeit kaum Gehör finden, eine Stimme.
Selbst viele Konservative haben sich in den vergangenen zwei Jahren mehrmals angesichts der destruktiven Regierungspolitik an den Kopf gegriffen. Als die Bundesregierung den Zugang zur Lehre für Asylsuchende versperrte und die Abschiebung von jungen Menschen, die mitten in einer Ausbildung sind oder diese sogar bereits abge-schlossen haben, begrüßte, platzte einigen schließlich der Kragen. Sie schlossen sich der „Ausbildung statt Abschiebung“-Initiative des oberösterreichischen Landesrats Rudi Anschober an. Ein ehemaliger ÖVP-Politiker fuhr darüber hinaus zur Asylstelle Traiskirchen, um dort das Propagandaschild von Innenminister Kickl abzumontieren. Die Initiative „Menschen.Würde.Österreich“ wurde von Personen aus dem ÖVP-Umfeld ins Leben gerufen, um Stimmung für ein modernes Bleiberecht zu machen. In einigen Orten im Westen Österreichs gingen selbst FPÖ-PolitikerInnen mit auf die Straße, um gegen eine Abschiebepraxis zu protestieren, die absurde Züge angenommen hat.
Jetzt, nach dem Platzen der türkis-blauen Koalition, scheint plötzlich wieder eine konstruktive Politik möglich zu sein. Maßnahmen, die Integration behindern, Ungleichheit verstärken, Menschen ins soziale Abseits drängen, Kinder im Stich lassen und grundlegende Menschenrechte bedrohen, könnten zurückgenommen oder zumindest abgeschwächt werden. Der Meinung von ExpertInnen könnte wieder der Vorzug vor der populistischen Berufung auf „Bauchentscheidungen“ gegeben werden. Inzwischen deutet etwa die vormalige ÖVP-Wirtschaftsministerin, die sich vor wenigen Monaten noch für die Abschiebung von Lehrlingen ausgesprochen hatte, an, es könnte in zu einer „Neubewertung“ des Umgangs mit Asylsuchenden in der Lehre kommen. Doch noch handelt es sich lediglich um Worte. Konkrete Maßnahmen lassen noch auf sich warten.
Die Ibiza-Affäre hat die Stopp-Taste beim destruktiven türkis-blauen Projekt gedrückt. Vorerst, denn es ist ungewiss, was nach der Wahl passiert. Im schlimmsten Fall könnte es auch nur die Pause-Taste gewesen sein.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo