
Transkript: "Geht in Wien die Demokratie verloren?"
Das fehlende Wahlrecht für immer mehr junge Menschen in Wien erzeuge eine zunehmende Demokratiekrise, waren sich ExpertInnen und Betroffene bei einer Podiumsdiskussion von SOS Mitmensch am 30. Juni einig. Dem alarmierenden Befund folgte die Aufforderung an die Politik, rasch zu handeln. SOS Mitmensch stellt das Transkript der Diskussion zur Verfügung.
--> Link zum Video der Online-Podiumsdiskussion
Es diskutierten: Derai Al Nuaimi (Bundesjugendvertretung), Ilkim Erdost (Verein Wiener Jugendzentren), Tekla Scharwaschidze (Studentin und Betroffene des Wahlausschlusses), Gerd Valchars (Demokratieexperte)
Alexander Pollak (Moderator, SOS Mitmensch): Ich möchte die Diskussion mit Tekla Scharwaschidze eröffnen. Sie ist hier aufgewachsen und hat dennoch bereits drei große Wahlen miterlebt bei denen sie trotz Erreichen des Wahlalters nicht wählen durfte. Zwei Nationalratswahlen und eine EU-Wahl. Jetzt kommt also die Wien-Wahl. Wieder darf sie, darfst du nicht mitwählen. Meine Frage an Tekla: Wie geht es dir damit?
Tekla Scharwaschidze: Ja, danke, Alexander. Ich möchte mich vorerst auch herzlich bedanken heute hier sein zu dürfen. Guten Abend auch an alle Live-Zuseher und Zuseherinnen. Ja, ich freu‘ mich auf einen interessanten Abend und auf eine spannende Diskussion. Ich würd‘ mal draufeingehen, warum ich nicht wählen darf. Nachdem unser Verfahren abgeschlossen war und wir die Aufenthaltsbewilligung bekamen, sind die zwölf Jahre, die wir davor in Österreich gelebt haben, automatisch weggefallen. Und für die Staatsbürgerschaft muss man unter anderem zehn Jahre Aufenthalt nachweisen. Und natürlich gibt es auch Ausnahmen, wie mit sechs Jahren Aufenthalt oder auch wie bei meiner Schwester, die hier geboren wurde. Und in zwei Jahren wäre dies dann bei uns der Fall, der zehnjährige Aufenthalt.
Wichtig ist natürlich anzumerken, wie auch Alex gesagt hat, dass wir von inländischen Wahlen ausgeschlossen sind. Auch von Volksbegehren, auch von der EU-Wahl, da Georgien kein Mitgliedsland ist. Und was das für mich bedeutet: naja, ich finde es natürlich sehr schade, meine Stimme nicht abgeben zu können, aber dies hat mich halt nie daran gehindert, mich politisch zu erkundigen, politische Geschehen im Inland mitzuverfolgen und mir auch eine eigene Meinung zu bilden. Und damals als Schülerin, wie auch jetzt natürlich, sehe ich es auch als wichtige Aufgabe andere zu ermutigen, wählen zu gehen. Auch zu kommunizieren, was es heißt, diese Möglichkeit nicht zu haben und auch einfachen einen Diskurs zu schaffen in meinem Freundeskreis oder unter Altersgleichen. Und ja, ich find‘ halt diese Frage sehr spannend, ob man sich dann auch als Teil der Demokratie fühlt, dadurch nicht wählen gehen zu können und zuvor hab ich mich eigentlich nie wirklich mit dieser Frage auseinandergesetzt oder mich mit ihr beschäftigt. Eher mit der Identitäts- und Heimatsfrage und mit der haben, glaub‘ ich, auch sehr viele zu kämpfen, die einen Migrationshintergrund haben oder auch andere Wurzeln.
Ja, aber, auf jeden Fall bin ich hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und studiere jetzt auch an der WU. Genieße die österreichische Bildung, sozusagen. Hab‘ mich auch nie eingeschränkt gefühlt, meine Meinung über politische Themen zu äußern. Ich war schon immer sehr politisch interessiert, da in unserem Haushalt auch sehr viel über Politik diskutiert wird und ich unterstütze Demos, die mich ansprechen. Ich bin seit einem Jahr auch Botschafterin des „European Student Think Tank“ und engagiere mich aktiv auch europapolitisch und versuche in meiner Position auch das europäische Bewusstsein zu stärken unter jungen Menschen.
Ich kann ehrlich den Gedanken ausschließen, mich nicht als Teil der Demokratie zu sehen, da ich finde, dass unglaublich viele Faktoren miteinfließen und natürlich das Wahlrecht hier ein Faktor darstellt.
Die große Zahl an von der Wahl ausgeschlossenen jungen Menschen bereitet Tekla Scharwaschidze Sorgen.
Alexander Pollak: Interessant und sehr vorbildhaft, dass du dich trotz des bisherigen Ausschluss vom Wahlrecht sehr intensiv mit Politik beschäftigst. Hast du das Gefühl, dass du da eher die Ausnahme bist, oder? Also z.B. du könntest auch bei den weiteren kommenden Wahlen nicht wählen, baut sich da nicht doch irgendwann ein bisschen ein Frust auf?
Tekla Scharwaschidze: Ja, ich glaub‘ je länger das andauert, desto schwieriger wird das dann auch, glaub ich, und das Zugehörigkeitsgefühl reduziert sich auf jeden Fall. Aber abgesehen auch davon, sehe ich mich als eine Mitbürgerin Österreichs und auch als aktive Betroffene von Geschehen aller Art, die in diesem Land passieren. Ich kann, wie gesagt, nicht für alle sprechen, nur aus meinen persönlichen Erfahrungen und auch hier meine persönlichen Gedanken dazu teilen, aber ich glaub‘, dass in einem Land, wo Solidarität, Akzeptanz und Toleranz großgeschrieben steht, das Zugehörigkeitsgefühl auch viel stärker ausgeprägt sein kann, auch wenn man die Möglichkeit hat nicht zu wählen.
Und zusammenfassend ist das Wahlrecht ein wirklich großer Faktor von vielen, der das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Demokratie ausmacht und natürlich stärken kann, auch wenn ich, also meine Familie und ich, hier jetzt keine Probleme beim Antrag haben, kenn‘ ich unzählige die mit Problemen währenddessen halt kämpfen müssen. Sich auch der Prozess unendlich langzieht, was sich dann bestimmt wiederum auf das Zugehörigkeitsgefühl auswirken kann, natürlich.
Alexander Pollak: Vielen Dank, Tekla. Ich darf gleich zu Gerd Valchars weitergehen. Er ist Demokratieexperte und kann uns vielleicht auch sagen, inwieweit die Situation von der Tekla typisch ist, eben doch schon lange hier leben, aber nicht wählen dürfen und wie überhaupt die Demokratielage derzeit in der Bundeshauptstadt ausschaut.
Gerd Valchars: Danke für die Einladung und danke für die Vorstellung. Ok, ist das jetzt typisch oder wie schaut’s aus mit der Demokratie in Österreich. Ich würd‘ sagen, die Mehrheit hat ein Wahlrecht, noch, aber es ist nicht untypisch, dass oder es betrifft sehr viele Personen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das wurde in der Ankündigung zur heutigen Veranstaltung schon erwähnt. Österreichweit gehen wir jetzt davon aus, dass über 16 % der Bevölkerung im Wahlalter vom Wahlrecht ausgeschlossen ist und in Wien von 30 %, also beinahe einem Drittel und dieser Anteil, der vom Wahlrecht Ausgeschlossenen ist in den letzten Jahren sukzessive gestiegen. In einem zeitlichen Ablauf von 20 Jahren hat sich das sowohl in Österreich als auch in Wien nahezu verdoppelt, dieser Anteil und sozusagen, wenn man weiter in die Zukunft schaut, kann man annehmen, wenn auf gesetzlicher Ebene keine Änderungen stattfinden, wenn weder das Staatsbürgerschaftsrecht geändert, also inklusiver gestaltet wird, noch abseits von der Staatsbürgerschaft ein Wahlrecht eingeführt wird, also wenn alles sozusagen so bleibt wie es bisher ist, dann wird sich diese Entwicklung auch nicht von selbst aufhalten, sondern diese Schere zwischen Wohn- und Wahlbevölkerung wird sowohl österreichweit als auch noch einmal verstärkt in Wien natürlich weiter aufgehen. Wohn- und Wahlbevölkerung wird weiter auseinanderdriften und die Demokratie sozusagen weiter defizitärer werden. Dadurch entsteht sozusagen eine Art Repräsentations- als auch ein Legitimationsproblem der Politik.
Vielleicht nochmal zur Illustration. Diese 30 %, dieses beinahe Drittel in Wien, das sind in absoluten Zahlen rund 470.000 Wienerinnen und Wiener, das ist die Gesamtbevölkerung der zweitgrößten und der viertgrößten österreichischen Stadt gemeinsam, also Graz und Salzburg, die in Wien sozusagen leben dürfen aber nicht wählen oder wenn man es sozusagen für Wien hier ausdrücken möchte, die Gesamtbevölkerung der zwei größten und zwei kleinsten Bezirke gemeinsam sind schlichtweg von politischer Mitsprache und Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Staatsangehörigkeit bedeutet das Versprechen nach rechtlicher Gleichstellung, bedeutet absolute Aufenthaltssicherheit und bringt eben dieses politische Mitspracherechte auf allen politischen Ebenen mit sich und damit in Wien eben auch auf der Ebene des Gemeinderats, der gleichzeitig auch Landtag ist, aber darüber hinaus natürlich auch bei den bundesweiten Wahlen, Nationalratswahlen, Bundespräsidentschaftswahlen oder den Wahlen zum Europaparlament. Das wirkt sich aus, wie jetzt gerade auch die Vorrednerin aus ihrer individuellen Position heraus ganz eindrücklich geschildert hat, auf einer individuellen Ebene, also ich persönlich kann dann nicht mitstimmen, ich werde nicht gefragt um meine politische Meinung, ich bin nicht repräsentiert in der Politik. Das hat aber auch natürlich gesamtpolitische Auswirkungen, weil es einfach zu einer Verzerrung der Repräsentation kommt.
Wir diskutieren ja heute auch mit dem Fokus auf junge Menschen und man sieht hier, dass die eben deutlich stärker vom Wahlrechtsausschluss aufgrund der Staatsangehörigkeit betroffen sind. Dort wirkt sich dieser Ausschluss stärker aus, daher gibt’s eine Verzerrung und sie sind unter den Wahlberechtigten deutlich unterrepräsentiert. Während auf der anderen Seite ältere Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert sind. Und das hat mitunter natürlich dann auch Auswirkungen auf die Politik, die gemacht wird. Weil wer wahlberechtigt ist, verfügt über diese Währung, nämlich die Stimme und wer nicht wahlberechtigt ist, verfügt über diese Währung im politischen Kontext eben nicht. Und die politischen Parteien, die Politikerinnen und Politiker orientieren sich genau daran, wer eine Stimme hat und wer nicht und entsprechend daran wird die Politik ausgelegt. Und wer keine politischen Mitspracherechte hat, der sozusagen ist da ausgeschlossen. Für den oder für die wird eben auch keine Politik notwendigerweise gemacht.
Das stetig wachsende Repräsentations- und Legitimationsdefizit der Demokratie sei dringend zu beheben, so Demokratieexperte Valchars.
Alexander Pollak: Vielen Dank für diese Erläuterungen. Kurz nachgefragt: Gibt es so etwas wie einen Kipppunkt, wo man sagen kann, nein, das ist eigentlich keine funktionierende Demokratie mehr? Wenn in Wien jetzt eben 30 % nicht wählen dürfen. Es gab früher Zeiten, wo über 90 % nicht wählen durften, weil nur die Reichen mit Stimmrecht ausgestattet waren. Es gab Zeiten, wo mehr als 50 % nicht wählen durften, weil nur die Männer mit Stimmrecht ausgestattet waren. Heute würde man rückblickend sagen, es waren vordemokratische Zeiten. Steuern wir auch wieder auf – aus Zukunftssicht – vordemokratische Zeiten zu?
Gerd Valchars: Ich glaub‘ es ist müßig, es ist eine gute und wichtige Frage, aber ich glaub es ist müßig sich darüber zu unterhalten welcher Prozentsatz jetzt der ist, wo die Demokratie gekippt ist und wo man nicht mehr von einer Demokratie sprechen kann. Demokratie in allen Bereichen ist sozusagen ein Kontinuum. Da geht’s um sozusagen nicht um null und eins, nicht um Demokratie ja oder Demokratie nein, sondern um mehr oder weniger Demokratie und umso inklusiver eine Gesellschaft, ein politisches Gemeinwesen ist, umso demokratischer ist es. Umso exklusiver ein politisches Gemeinwesen ist, umso stärker dieser Ausschluss von der politischen Mitsprache wirkt und du hast es jetzt gerade erwähnt, das ist ja nichts, mit dem wir uns jetzt aktuell das erste Mal beschäftigen, sondern wiederholt in der Geschichte. Und je stärker dieser Ausschlussfaktor ist, umso weniger ist die Gesellschaft natürlich demokratisch und umso weniger verfügt die Politik über Legitimation. Das ist ja schlichtweg auch der Punkt, der dahinter steckt.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank. Ich geh gleich weiter zur Geschäftsführerin der Wiener Jugendzentren, die sich eben seit vielen Jahren schon für die Demokratie stark machen und versuchen Jugendlichen das Wählen näher zu bringen. Wie gut kann das eigentlich gelingen, wenn immer mehr Jugendliche nicht wählen dürfen? Droht da in Wien ein Stück weit Demokratie verloren zu gehen?
Ilkim Erdost: Ja, es droht auf jeden Fall ein Stück weit Demokratiekultur verloren zu gehen, weil Demokratie ja nicht etwas ist, das einem intuitiv in die Wiege gelegt wird oder in den Schoß gelegt wird. Demokratie muss man sich erschließen, muss man erlernen, ist teilweise auch ein schwieriger Lernprozess, wo verschiedene Aushandlungen stattfinden, unterschiedliche Positionen ausgetauscht werden und gerade in der Jugendarbeit arbeiten wir vielfach mit Beteiligungsprojekten, wo wir Jugendliche dazu einladen sich zu Wort zu melden, ihre Meinung kundzutun, auch Positionen zu formulieren, die Gegenposition auszuhalten und versuchen zu überzeugen. Und immer mehr Jugendliche spiegeln uns allerdings zurück, das ist nichts für mich. Ich kann soundso nicht wählen. Und viele dieser Jugendlichen wachsen hier auf, sind auch Wienerinnen und Wiener und würden sich auch als solche definieren, wachsen allerdings auch teilweise in Familien auf, wo auch bereits schon die Eltern nicht wählen können. Das heißt hier ist der Ausschluss, in dem was sie als Sozialisationserfahrung von klein auf mitnehmen schon ein recht großer.
Und weil wir jetzt über die schier großen Zahlen auch bereits gesprochen haben. Auch für besonders junge Wienerinnen und Wiener, also jene die zwischen 16 und 24 Jahre alt sind, habe ich eine besonders große Zahl mitgebracht, nämlich jene die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das sind in dieser Altersgruppe bereits 72.000 junge Menschen. Das ist eine unglaubliche Zahl.
Und diese Ausschlusserfahrung macht etwas mit jungen Menschen. Also einerseits das was sie uns als Jugendarbeiter zurückspielen, also ich beteilig‘ mich da jetzt nicht an eurem Demokratieprojekt, weil das ist soundso nichts für mich. Die demokratischen Entscheidungsprozesse interessieren mich gar nicht, weil ich werde ja auch nicht gefragt. Es ist auch ein Stück weit eine weitere Ausschlusserfahrung, die Jugendliche hier mit unterschiedlichen Wurzeln, Backgrounds, hier machen. Bereits in der Schule oder bereits im Betrieb, in der Ausbildungsstätte sind sie immer wieder und immer nur „der Türke“, „der Jugo“ oder „die Türkin“. Und das verfestigt sich nach einer gewissen Zeit. Wenn man das immer wieder wiederholt, zurückgespielt bekommt, ist das etwas was man auch im Selbstbild irgendwann internalisiert. Und wir dürfen nicht unterschätzen, wie viel diese strukturelle Ausschlusserfahrung auch mit Jugendlichen macht.
Wir haben jetzt unlängst auch eine sehr aktuell politische Debatte darüber, warum sind Jugendliche oder wann sind Jugendliche besonders anfällig für Radikalisierung. Sie sind besonders dann anfällig für Radikalisierung, wenn sie Gemeinschaft suchen, wenn sie Anerkennung suchen und wenn sie dies woanders nicht finden. Besonders dann, wenn sie in prekären Lebenslagen sind und wenig Perspektiven haben. D.h. das gerade Beteiligung, Demokratiearbeit, sowohl in der pädagogischen Arbeit, wie wir sie machen, aber auch kommunalpolitisch, ein ganz, ganz wichtiger Hebel sind, um junge Menschen frühzeitig in die Stadt, in die Kommune, in ihrer Nachbarschaft einzubeziehen, mitzunehmen, präventiv auch zu arbeiten und ihnen auch das Gefühl zu geben, sie werden gehört und sie werden anerkannt. Die Stadt hört dich. Und das ist etwas, das wir durch die pädagogische Arbeit nur punktuell ersetzen können. Hier ist die Ausschlusserfahrung durch das Staatsbürgerschaftsrecht sicherlich ein sehr, sehr großes.
Die Jugendexpertin spricht angesichts von 30 Prozent Nicht-Stimmberechtigten von einer alarmierenden Entwicklung.
Alexander Pollak: Auch noch kurz von mir nachgefragt, betreffend Ausschlusserfahrung: Eine wichtige Rolle bei den sehr restriktiven Einbürgerungsbestimmungen Österreichs spielen erstens die hohen Gebühren, aber zweitens auch das relativ hohe Einkommen, das verlangt wird um sich einbürgern lassen zu können. Bei Jugendlichen spielt dann auch noch mit hinein, dass die dann eigentlich abhängig sind vom Einkommen der Eltern, eigentlich selber keine Chance haben, dieses Einkommen zu erwirtschaften. Inwieweit spielt da diese soziale Komponente auch hinein, spürt ihr das in eurer Arbeit mit den Jugendlichen?
Ilkim Erdost: Ja, selbstverständlich. Wir dürfen nicht unterschätzen, junge Menschen haben einen sehr klaren Blick dafür, wo sie selbst hinzugezählt werden. Ob sie jetzt in eine NMS gehen oder in ein Gymnasium gehen, macht nicht nur für ihren weiteren Lebensweg einen großen Unterschied, sondern macht auch einen großen Unterschied, wie das Umfeld sie wahrnimmt und was es ihnen rückspiegelt. Die Einkommensbeschränkungen sind tatsächlich und die Einkommenshürden sind tatsächlich enorm. Jugendliche sind hier einerseits natürlich vom Haushaltseinkommen abhängig, aber wenn sie das Alter von 18 Jahren erreicht haben, müssen sie diese Einkommenshürden selbst nehmen. Das heißt sie starten mit, ich glaub‘ der Zeitraum ist jetzt sechs Jahre durchgängige Beschäftigung, die besten sechs Jahre werden hier herangezogen. Sie dürfen in diesem Zeitraum keine Sozialhilfe beziehen bzw. auch sonst keine Sozialleistungen. Also z.B. Familien, die eine Wohnbeihilfe beziehen, fallen hier sofort einmal aus diesem Verfahren heraus. Und dann gilt es durchgängig beschäftigt zu sein. D.h. das Jugendliche, die in Ausbildung sind, die den Ausbildungsplatz verlieren, fangen neu an. Personen, die in prekären Beschäftigungsverhältnisse sind, junge Erwachsene sind häufig in Saisonbetrieben beschäftigt, wo sie immer wieder mit Unterbrechungen zu rechnen haben. D.h. hier wird einfach ganz gezielt werden hier junge Menschen, die den Sprung ins Arbeitsleben zu schaffen, ohnehin jetzt aktuell mit einer sehr, sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit bedroht sind, hier noch weiter in prekären abzurutschen. Hier werden Jugendliche gezielt damit ausgeschlossen und sehr große Hürden für ein selbstständiges Leben für sie gesetzt.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank. Und damit komme ich zu Derai Al Nuaimi. Er vertritt heute die Bundesjugendvertretung, die sich für die Rechte und Anliegen junger Menschen in Österreich einsetzt. Meine Frage an dich: wie sieht die Bundesjugendvertretung den zunehmenden Ausschluss von hier aufgewachsenen jungen Menschen vom Wahlrecht?
Derai Al Nuaimi: Erstmal Dankeschön für die Einladung, Dankeschön, dass ich dabei sein kann, freut mich sehr. Die Bundesjugendvertretung vertritt alle Kinder und Jugendlichen in Österreich, das sind rund drei Millionen Menschen. Ich sage bewusst alle, das heißt die, die Staatsbürgerschaften haben und die, die keine Staatsbürgerschaften haben. Wir vertreten die Interessen und stehen auch für diese Interessen ein und lobbyieren quasi auf der politischen Ebene für Kinder und Jugendliche. Auf die allgemeine Frage, ob in Wien die Demokratie verloren geht: ich würde nicht sagen, direkt verloren, da gehört schon ein bisschen mehr dazu, aber sie ist auf jeden Fall stark gefährdet.
Kinder und Jugendliche sind individuell sehr unterschiedlich und vielfältig und daher braucht es auch unterschiedliche maßgeschneiderte Angebote auf ihre Bedürfnisse. Also das heißt, man muss auf diese Bedürfnisse eingehen, damit Kinder und Jugendliche auch ihr Potential erfüllen oder erreichen können bzw. entfalten können und das wiederum fördert das Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen und wenn man das garantiert oder wenn man in diese Richtung arbeitet, das ist ein wesentlicher Aspekt für die gesellschaftliche Integration. Da geht’s gar nicht nur um Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Da geht’s nicht immer um politische Teilhabe, sondern auch allgemein um Kinder und Jugendliche die aus sozial schwächeren Familien kommen oder aus Familien kommen, die bildungsmäßig benachteiligt sind oder bildungsfern sind. Und wenn man eine aktive, wenn man eine Gesellschaft haben möchte die zusammenhält, ja, wo auch jeder quasi gehört wird, da muss man Partizipation allgemein garantieren für Kinder und Jugendliche und politische Partizipation ist ein ganz großer Bestandteil davon.
Wir sehen, wir stehen demgegenüber sehr kritisch, dass so viele junge Menschen, vor allem junge Menschen die in Österreich ihren Lebensmittelpunkt haben, nicht wählen dürfen oder können. Und wir fordern schon lange, dass quasi hier die Einführung des Wahlrechts für Menschen, für junge Menschen oder für Menschen allgemein gibt, die quasi hier ihre Wohnsitzbürger*innenschaft haben, aber auch für Kinder und Jugendliche, die Doppelstaatsbürger und Staatsbürgerinnen sind, dass quasi da die österreichische Staatsbürgerschaft anerkannt wird und dass es ihnen ermöglicht wird, quasi mit zu wählen. Aber auch Kinder, wo die Eltern jetzt nicht unbedingt Staatsbürger sind, Staatsbürgerinnen sind, aber die in Österreich geboren sind und quasi, dass man hier eine Einbürgerungs-Offensive angeht, als Staat Österreich und natürlich auch als Stadt Wien in dem Fall, und auch rückwirkend für Kinder und Jugendliche quasi Staatsbürgerschaften ermöglicht, die jetzt in Österreich geboren, also nicht Neugeborene sondern Kinder und Jugendliche die quasi vor einigen Jahren geboren sind.
Das ist sehr wichtig, weil diese Kinder und Jugendlichen wachsen zu Erwachsenen heran, und ich glaub‘ die meisten oder alle Experten die in diesem Feld, wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt, oder wenn es um gesellschaftliche Integration geht, sagen hier dasselbe: Wenn man die Partizipationsmöglichkeiten steigert, dann führt das zu einer bewussteren Gesellschaft und einer dadurch auch eine Gesellschaft die die Demokratie mehr schätzt und mehr lebt.
Bundesjugendvertreter Derai Al Nuaimi sieht eine "Gefährdung der Demokratie" durch den zunehmenden Wahlausschluss von jungen Menschen.
Alexander Pollak: Vielen Dank auch. Von mir nochmal eine Nachfrage: die Bundesjugendvertretung besteht ja aus sehr vielen unterschiedlichen Organisationen. Inwieweit gibt es da einen Konsens zu diesem Thema, zum Thema eben Partizipations- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge Menschen, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, oder ist das etwas quasi, das ein Streitthema auch innerhalb der Bundesjugendvertretung ist?
Derai Al Nuaimi: Ja, die Bundesjugendvertretung besteht aus ca. 53 Jugendorganisationen, diese Jugendorganisationen sind auch sehr divers und bilden quasi auch die Kinder und Jugendlichen hier ab. Natürlich ist das Thema jetzt kein Thema wo alle Jugendorganisationen sagen, ja, passt, ist selbstverständlich für uns. Da gibt es auch verschiedene Meinungen und das ist auch gut so, dass es immer wieder verschiedene Meinungen gibt. Das, was ich aber jedoch hier sage und die Forderungen, die die Bundesjugendvertretung hat, das ist alles Teil unseres Positionspapiers „Vielfalt und Solidarität“ vom Jahr 2015 und das ist quasi durch den Vorstand abgesegnet worden, also es ist die aktuelle Position der Bundesjugendvertretung. Wir haben in der Bundesjugendvertretung auch demokratische Prozesse, die quasi einen Vorstand ermöglichen und dann einen Vorsitz auch, damit man das quasi als Organisation da etwas schaffen kann und das was ich gesprochen habe ist Position seit 2015 schon und da steht die Bundesjugendvertretung dafür ein.
Was man allgemein nicht vergessen darf ist, dass Jugendorganisationen allgemein hier einen sehr wesentlichen Beitrag leisten. Indem sie einfach Beteiligungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen ermöglichen, diese Beteiligungsprozesse machen es möglich, dass die Kinder und Jugendlichen den demokratischen Prozess kennenlernen, aber werden auch quasi motiviert dazu und befähigt, ermächtigt diese auch zu nutzen. Das heißt, was die Jugendorganisationen ganz oft machen ist Kindern und Jugendlichen zu sagen: "Hey, auch wenn’s vielleicht nicht danach ausschaut, ja, aber keine Ahnung, wenn du jetzt, ich weiß nicht, keine Staatsbürgerschaft hast, dann trotzdem, strebe nach politischer Partizipation“. Auf der anderen Seite setzen wir uns dafür ein, dass das auch politisch ermöglicht wird, aber Kinder- und Jugendorganisationen geben ganz oft geben den Kindern und Jugendlichen vielleicht Flügel um da quasi auch einen politischen Traum zu verfolgen.
Wenn jetzt irgendjemand, wenn jetzt ein junges Mädchen oder irgendjemand ursprünglich aus einem anderen Land stammt oder wo die Eltern aus einem anderen Land stammen, dann sagen wir Jugendorganisationen: "Hey, wenn du Kanzlerin werden möchtest, dann kannst du das werden und wir motivieren dich dazu". Wir als Jugendorganisationen stehen dafür ein, dass Jugendliche quasi das erreichen können, was sie möchten und natürlich muss man da auf der anderen Seite politischen Druck machen, Lobby-Arbeit leisten damit dass auch ermöglicht ist.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank. Wir wollten auch von der Wiener Politik wissen, welche Position die Parteien zum zunehmenden Wahlausschluss vertreten. Und deswegen haben wir alle Parteien gebeten uns ein kurzes Videostatement dazu zu schicken und vier Parteien sind dieser Bitte auch nachgekommen, nämlich SPÖ, Grüne, Neos und Links. ÖVP, FPÖ und Liste Strache wollten uns kein Statement schicken. Die Statements, die wir bekommen haben, haben wir zu einem kurzen Video zusammengefasst. Film ab!
Jürgen Czernohorszky (SPÖ): Wir haben in Österreich und besonders in Wien ein Demokratiedefizit. Zehntausende Wienerinnen und Wiener dürfen nicht wählen, obwohl sie hier geboren sind oder obwohl sie hier seit vielen, vielen Jahren leben. Zehntausende Wienerinnen und Wiener dürfen nicht wählen, weil sie die Staatsbürgerschaft nicht haben. Das darf uns nicht egal sein und es ist mir nicht egal und es muss sich ändern. Wir haben in Österreich ein restriktives Staatsbürgerschaftsrecht. Das macht uns zum Schlusslicht in Europa. Wir brauchen aber ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht, das nicht teilt zwischen Arm und Reich und das viel früher und viel leichter, den Zugang zur Teilhabe ermöglicht. Wir brauchen ein Staatsbürgerschaftsrecht, das nicht in die Vergangenheit schaut, sondern eine gemeinsame Zukunft ermöglicht.
Niki Kunrath (Grüne): Stell dir vor: du lebst seit vielen Jahren in einer Stadt, arbeitest, zahlst Steuern, verbringst deine Freizeit hier. Politisch mitbestimmen darfst du aber nicht. So geht es in Wien sogar fast jeder dritten Person. Mit der „Pass Egal Wahl“ setzt sich SOS Mitmensch seit 2013 dafür ein, jenen Menschen eine Stimme zu geben, die sonst keine bekommen. Für das Recht aller Wiener*innen ab dem 16. Lebensjahr auf Bezirks, Gemeinde- und Landtagsebene zu wählen, kämpfen auch die Grünen schon seit vielen Jahren. Ich bin Niki Kunrath, war Generalsekretär von SOS Mitmensch und bin Migrations- und Integrationssprecher der Grünen Wien.
Christoph Wiederkehr (Neos): Ich sehe es als großes Problem, dass immer mehr Menschen, die in Wien wohnen, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Und darunter fallen auch ganz viele Jugendliche, die eigentlich mitbestimmen wollen, es aber nicht dürfen. Und darum finde ich es notwendig, dass mehr Menschen, die hier wohnen, auch wählen dürfen, indem wir erstens die Doppelstaatsbürgerschaft ermöglichen und erleichtern und zweitens in einem ersten Schritt auch Unionsbürger sofort zulassen zu Wiener Gemeinde- und Landtagswahlen. Das sind wichtige Schritte, dass die Menschen, die hier leben, auch mitbestimmen können.
Can Gülcü (Links): Stell dir vor, du wohnst in einer 3er-WG. Ihr geht gemeinsam einkaufen, ihr teilt euch die Rechnung, ihr kocht gemeinsam, ihr esst gemeinsam, ihr wascht gemeinsam ab. Alles gut. Aber wenn es darum geht, was gegessen wird, dürfen immer die anderen zwei entscheiden. Wenn es um Wahlen und politische Entscheidungen geht, geht es 100.000 Wienerinnen und Wienern so. Dass ein Drittel der Stadtgesellschaft von Wahlen ausgeschlossen ist, ist ein demokratiepolitischer Skandal und es ist eine Stadt wie Wien, die immer schon eine Stadt der Migration war, einfach nicht würdig. Wir von Links treten am 11. Oktober zum ersten Mal bei Wahlen in Wien an und werden alles dafür tun, dass es die letzten Wahlen werden, in der es um den Pass geht und nicht um die Mitbestimmung aller Menschen, die hier leben. Die Losung ist: Wahlrecht für alle!
Alexander Pollak: Interessant ist, dass nur die Parteien für ihre Position Werbung machen wollen, die eine aufgeschlossene Position zum Wahlrecht für Menschen ohne Staatsbürgerschaft bzw. eine aufgeschlossene Position zu einer Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts haben. Die Parteien, die da eher bremsen oder blockieren oder eine diametral gegengesetzte Position haben, wollten ihre Position zumindest uns gegenüber nicht argumentieren. Was wir gehört haben in den Videos waren auch ein paar Lösungsvorschläge, die von einem modernen Staatsbürgerschaftsrecht über die Partizipation von Unionsbürger*innen, Erleichterungen bei der Doppelstaatsbürgerschaft bis hin zum Wahlrecht für alle gereicht haben und ich möchte jetzt nochmal zurück, den Ball an meine Podiumsgäste spielen und fragen, ob diese Vorschläge und die Statements, ob das was Ermutigendes war oder vielleicht auch nicht, ich möchte wieder mit der Tekla beginnen.
Tekla Scharwaschidze: Ja, ich hoffe man hört mich gut. Ja, war unglaublich spannend. Wie gesagt, das ist kein Geheimnis, dass Österreich auch im Migrants Integration Policy Index weit hinten weg eines der Länder in Westosteuropa ist, das die Einbürgerung am schwierigsten ermöglicht. Ich finde, dass ein Mangel in der Politik herrscht, das Wahlinteresse zu wecken innerhalb der Wähler und auch potenziellen Nicht-Wählern über 16 Jahren und dass es auch unglaublich wichtig ist, den demokratiepolitischen Teufelskreis, der durch den mangelnden Handlungswillen der Politik, an dem Wahlausschluss was zu ändern, entsteht, dem entgegen zu wirken. Denn es sind 72.000 verlorene junge Stimmen und Meinungen, und wenn diese Menschen nicht irgendwie auch in die Politik miteinbezogen werden, nicht einmal in den Diskurs, dann frag‘ ich mich, wie viele von diesen Stimmen dann im Endeffekt, wenn sie die Möglichkeit haben wählen zu gehen, diese Möglichkeit dann auch ausnützen. Und ja, also das ausschlaggebende ist hier das Wahlinteresse zu wecken und Anpassungen zu ermöglichen, wie es auch in den Statements gesagt wurde, dass es sozusagen, dass was diese Parteien machen wollen, aber wie gut das dann umgesetzt werden kann ist dann die Frage. Und was mir gefehlt hat ist, ja, wie man diese Lösungsansätze umsetzen kann.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank. Die Frage geb‘ ich gleich an den Gerd Valchars weiter. Zum einen, war was Überraschendes dabei bei den Statements von den vier Parteien, und zum anderen, waren die Lösungsansätze, die genannt wurden, realistisch oder gäb‘ es da was Klügeres?
Gerd Valchars: Naja, realistisch und klug muss ja nicht immer sozusagen einander ausschließen oder der gegenteilige Part sein. Ich denk mir, war was Überraschendes dabei, nicht wirklich, weder von dem was gesagt wurde, noch von dem was nicht gesagt wurde. Wie du ja eben festgestellt hast, gab es nur Wortmeldungen von Personen oder Parteien, die jedenfalls das Problem sehen, wenn‘s auch unterschiedliche Lösungsansätze dann möglicherweise geben mag. Und es gab keine Wortmeldungen von den politischen Kräften, die kein Problem sehen wollen. Das überrascht mich insofern weniger, weil ich tatsächlich den Eindruck hab, sie haben schlechte Argumente.
Man muss ehrlich sein, ich hör hier kaum wirkliche Argumente, warum das alles so bleiben soll, wie‘s ist und warum das gut ist, dass ein Drittel, sozusagen, ansteigend, in Wien vom Wahlrecht ausgeschlossen sein sollen. Da bleibt‘s meistens bei dem Argument, was im Übrigen auch ein falsches ist, Wahlrecht ist ein Staatsbürgerschaftsrecht und das ist überall so, Punkt aus.
Also weder war das immer so, es gab inklusivere Wahlrechtsregelungen selbst in Österreich in der Vergangenheit und in vielen anderen Staaten der Welt auch. Und es gibt auch derzeit noch Staaten, die das Wahlrecht von der Staatsangehörigkeit entkoppelt haben, zugegebenermaßen wenige auf der nationalen Ebene, gibt es aber auch, das Paradebeispiel, dass da immer genannt wird ist Neuseeland, das sicherlich eines der inklusivsten Länder weltweit ist. Aber auch viele Staaten haben auf einer kommunalen Ebene, und Wien ist ja eine Kommune, da geht‘s ja gerade darum, oder auf einer regionalen Ebene, und Wien ist eben auch ein Bundesland und also auch eine Region, die ein inklusives Wahlrecht auf diesen beiden Ebenen haben, und Österreich hat auch das nicht. Aber die Argumente sozusagen stoppen meistens bei der falschen Darstellung, dass das nun einmal immer und überall so sei.
Zu den Lösungen, die wurden in den vier Statements auch ganz gut meines Erachtens, die stehen da, und das Schöne an diesen Lösungen ist, die schließen einander in keinster Weise aus. Es gibt mehrere Wege, und beide oder alle diese Wege können gleichzeitig bestritten werden. Da gibt‘s natürlich die Möglichkeit zu sagen, das Staatsbürgerschaftsrecht muss modernisiert werden, muss an die aktuellen Verhältnisse einer modernen Gesellschaft mit moderner Migrationsdynamik angepasst werden. Dem würd ich zustimmen, das betrifft sowohl die Einbürgerungskriterien auf der einen Seite, als auch die Frage wie wird die Staatsangehörigkeit bei der Geburt erworben, weil das eine hängt mit dem anderen ja zusammen. Ein Drittel aller Einbürgerungen in Österreich jährlich geht auf Personen zurück, die in Österreich zur Welt gekommen sind. In anderen Staaten wären die möglicherweise von Geburt an Staatsangehörige, in Österreich werden die erst in einem teuren und langwierigen Einbürgerungsverfahren eingebürgert. Das könnte man sich beispielsweise ersparen. Der zweite Punkt ist, dass die Akzeptanz der Doppelstaatsbürgerschaft, das wurde in einem der Beiträge erwähnt, das ist Gang und Gebe in vielen anderen Staaten, hier hinkt Österreich hinten nach. Das wären sozusagen die Schrauben, die man beim Staatsbürgerschaftsrecht drehen kann.
Und davon abgesehen, kann man natürlich auch überlegen, ob man nicht, wie schon vorhin angedeutet, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht voneinander trennen möchte und sagt, Kriterium soll sein wer in Wien lebt beispielsweise, wenn wir über Wien reden, soll hier auch wahlberechtigt sein. Man kann da eine Frist von ein, zwei, drei Jahren, das ist eine Diskussionsfrage, einführen. Und darüber hinaus, wer die Staatsangehörigkeit hat und vielleicht nicht gerade im Land ist, soll auch wahlberechtigt sein. Also Staatsangehörigkeit nicht als Kriterium abschaffen, aber als eines sehen, das inkludiert und nicht exkludiert.
Und weder die Änderung und quasi die Änderungen beim Staatsbürgerschaftsrecht, als auch diese Entkoppelung von Staatsbürgerschafts- und Wahlrecht schließen einander nicht aus. Man sieht genau umgekehrt, dass die Staaten, die beispielsweise auf kommunaler Ebene ein Wahlrecht für Nicht-Staatsangehörige, haben meistens auch ein deutlich liberaleres, inklusiveres Staatsbürgerschaftsrecht haben. Also quasi die Empirie zeigt uns, man kann durchaus beides auch gleichzeitig machen.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank, ich geb‘ das Wort weiter an Ilkim Erdost. War es für dich da etwas Überraschendes, Ermutigendes oder Nüchternes dabei bei den Politiker-Statements?
Ilkim Erdost: Nur Ermutigendes. Nachdem es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt, das Problem und diesen wirklich demokratiepolitischen Skandal zu beheben, bin ich guter Dinge, dass es eine Lösung dafür geben wird, ich denke auch tatsächlich nicht, also der Gerd Valchars hat es jetzt ausgeführt, dass es daran scheitert, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gäbe und es gibt auch kein rationales Argument, dass tatsächlich dagegen sprechen würde, hier sozusagen den „Turn around“ zu schaffen.
Aber ich möchte etwas ansprechen, das ein bisschen schwierig anzusprechen ist, weil ich denke, dass es doch gewollt ist. Also ich denke es ist gewollt, dass das Staatsbürgerschaftsrecht möglichst schwierig ist zu erlangen für Bevölkerungsgruppen die im Niedriglohnsektor arbeiten. Ich glaube es ist gewollt, dass es hier besonders große Hürden gibt und diese Absicht wird gespürt und das ist ein bisserl eine schwierige Mischung mit dem wir dann in der offenen Jugendarbeit sozusagen mit den Aufräumarbeiten zu kämpfen haben, weil diese Ablehnung und dieser Ausschluss wird als das erkannt bei den Betroffenen was es ist, nämlich eine Ablehnung. Dass sie nicht, vielleicht andere schon, nämlich die die mehr verdienen und angesehenere Jobs haben, sie nicht, dass sie aber nicht der Staatbürgerschaft wert sind und ich glaube das ist sozusagen, einerseits in der gesellschaftspolitischen Dimension, das es einfach schier so viele sind und das jährlich ein Prozentpunkt in der Bevölkerungskohorte da dazu kommt, also es wächst auch dynamisch, das heißt wir haben jetzt 30 Prozent, in zehn Jahren haben wir 40 Prozent.
Also was macht das mit einer Stadt? Einerseits sozusagen diese Dynamik, und andererseits aber auch, die Ablehnung gar nicht missverstanden wird, dass es hier einfach auch um eine soziale Selektion geht. Und für die Jugendlichen und auch für die Demokratiekultur in Wien heißt das tatsächlich, dass Demokratie anders wahrgenommen wird oder demokratische Entscheidungsprozesse anders wahrgenommen wird. Nämlich, als würden sie die anderen betreffen, ja, nicht sie, die anderen sind, jene die, die sozusagen mitentscheiden können und man selber, und das ist gar keine so kleine Gruppe mittlerweile, wir sind außen vor. Das schafft eine Distanz zu demokratischen Entscheidungsprozessen, die sicher nicht nur, in sag ma‘ so, im besten Fall mit Ignoranz beantwortet wird, aber meistens auch ein Stück weit eben die Ablehnung gespiegelt wird. Und Demokratie lebt davon, dass sich Menschen beteiligen, dass sich Menschen den frustrierenden Prozessen von demokratischen Entscheidungsprozessen aussetzen, dass sie sich engagieren wollen, dass sie zuhören wollen, dass sie die Nachrichten verfolgen, dass sie Interesse zeigen und dass droht hier ins Rutschen zu geraten, weil vor allem Jugendliche in jungen Jahren anders geprägt werden und wenn man es zwischen 16 und 21, 24 so erfährt, dann es wird in späteren Jahren sehr, sehr schwierig, das zu überwinden und ich glaube das dürfen wir gesamtgesellschaftlich nicht unterschätzen, was das macht, und ich glaube, man muss auch benennen, dass es ein Stück weit gewollt ist und dass hier ganz gezielt sozusagen, auch sozial selektiert wird, und dass diese soziale Selektion von den Betroffenen als genau das wahrgenommen werden.
Alexander Pollak: Ok, vielen Dank. Ich geb‘ die Frage auch an den Derai weiter, ja, war was Überraschendes, was positiv Stimmendes oder eher was Ernüchterndes dabei bei den Politiker-Statements?
Derai Al Nuaimi: Überraschend war jetzt für mich nichts, aber man kann durch die Abwesenheit von gewissen Parteien eigentlich sehr viel sagen, wenn Parteien laufend Politik machen gegen Menschen mit Migrationshintergrund, gegen Menschen, die zugewandert sind oder die quasi nicht autochthone Österreicher sind oder Österreicherinnen, dann steht das natürlich auch nicht in ihrem Interesse, dass diese Menschen auch wählen dürfen, das heißt, das ist eine bewusste, kalkulierte politische Entscheidung, wenn Parteien gegen diese Menschen Politik machen, dann erwarten sie sicher nicht auch nicht, dass sie sie wählen und das ist natürlich auch irgendwo politische Katastrophe für diese Parteien, wenn diese Menschen wählen dürfen, die werden dann andere Parteien wählen. Parteien unter anderem auch, die sich hier präsentiert haben und da muss man auch ganz bewusst sagen, dass, ich glaub‘ das alles gerne, aber da geht es auch um ganz viel Politik, weil diese Parteien, die hier erwähnt wurden oder die sich selbst vorgestellt haben, die würden davon auch natürlich profitieren.
Was ich allgemein sagen möchte, dass es hier, dass ich da nicht unterscheiden würde oder in EU-Bürger*innen oder nicht EU- Bürger*innen, einfach jeder Mensch, jede jüngere Person, jede ältere Person, egal wer, die in Österreich ihren Lebensmittelpunkt haben, sollten auch quasi mitbestimmen dürfen und wählen dürfen. Wir haben auf der einen Seite, sind wir Pioniere, was das Wahlalter angeht in Europa, wir sind einer oder, es gibt zwei Staaten in Europa, die mit 16, wo man mit 16 schon wählen darf, das ist etwas, wo man auch gerne, wenn man international unterwegs ist, ein bisschen angibt und sagt: Ja, hey, Vorreiterrolle. Auf der anderen Seite sind wir Schlusslicht, was die Inklusion von Menschen angeht, die jetzt hier ihren Lebensmittelpunkt zwar haben, aber jetzt nicht hier geboren wurden oder manche die sogar hier geboren wurden und das ist katastrophal, weil das endet auch nicht gut, also da geht’s wirklich um gesellschaftliche Inklusion und wenn man weiterhin das auf die Art und Weise macht, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse auch verheerend sind.
Auf der anderen Seite hört man immer wieder von der Politik oder auch ein bisschen von der Gesellschaft, bitte integriert’s euch, Leute die hier, also nach Österreich zugewandert sind oder die Leute, die hergezogen sind oder Leute, die ursprünglich in anderen Kulturen aufgewachsen sind, sollen sich bitte integrieren und die Demokratie respektieren und schätzen. Auf der anderen Seite geben ich diesen Leute nicht die Möglichkeit, die Demokratie zu leben oder mitzubekommen anhand von ihnen selbst, was Demokratie ist und das Wahlrecht ist eines der Hauptinstrumente der Demokratie und da ist es finde ich immer wieder interessant, wie man das vor der Integration benutzt und hier einfach damit spielt, emotionalisiert, speziell auch politische Parteien das machen und wie gesagt also Ernüchterung.
Also es gibt sehr viele Lösungen, Lösungsansätze, die schließen sich ja nicht aus, aber die Frage ist, wie groß der politische Wille ist, ob man dahinter ist von Parteien die, wo sie sagen ok, uns interessiert die gesellschaftliche Inklusion und eine funktionierende Gesellschaft, aber was tun diese politischen Parteien oder diese politischen Kräfte für eine inklusive Gesellschaft, das sei dahingestellt.
Ja, ich hoffe es liegt oder ich denke es liegt an Leuten wie uns einfach oder an Organisationen, an Multiplikatoren, an politische Parteien, an alle eigentlich, dahingehend Druck zu machen, dahingehend zu arbeiten, auch viel zu sensibilisieren und der letzte Punkt, der ganz, ganz wichtig ist, der gar nicht erwähnt wurde, ist ok, jetzt habe ich angenommen das passiert und Leute dürfen wählen und bekommen das Recht sich an Wahlen zu beteiligen, wie bringe ich Partizipation zu Menschen, die das vorher nicht kannten oder zu bildungsfernen Menschen oder zu Menschen, die sozial benachteiligt sind. Dafür braucht‘s Instrumente, braucht‘s Maßnahmen, diese Maßnahmen werden von vielen NGOs, von vielen Gruppierungen in Österreich vorbildlich gelebt, aber inwiefern würde ich auch diese unterstützen als Politik und das fehlt mir ganz oft in dieser Parteidiskussion, das man zwar sagt, ja, hey, alle dürfen mitmachen und so weiter, da muss man aber auch ganz klar darauf angehen, wie man das bestmöglich erreicht und wie man speziell junge Menschen da abholt, wo sie sind und ihnen das quasi ermöglicht und nahe bringt.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank, ich darf jetzt meine Kollegin Magdalena Stern darum bitten sich zuzuschalten und uns zu sagen, ob es bereits Publikumsfragen gibt.
Magdalena Stern: Ja, die erste Frage geht an den Gerd Valchars und zwar fragt der Manfred, welche Staaten bereits ein regionales Wahlrecht haben.
Gerd Valchars: Ja, regionales Wahlrecht, also das meint dann eben nicht die kommunale, städtische Ebene und auch nicht die Bundesebene, sondern eine Ebene dazwischen. Da sozusagen, auf meinen Schummelzettel hab‘ ich nachgeschaut, sind sechs Staaten innerhalb der europäischen Union, die so ein Wahlrecht für Nicht-Staatsangehörige kennen und das ist Dänemark, Schweden, Slowenien, Ungarn, Portugal und Großbritannien. Wobei sozusagen natürlich immer auch die Frage ist, welche Stellung diese Regionen innerhalb des Staatsaufbaus in den jeweiligen Staaten haben. Die können möglicherweise oder die sind möglicherweise nicht mit den Bundesländern in Österreich in jedem Fall vergleichbar.
Magdalena Stern: Danke. Dann gab’s vorab eine Frage an die Ilkim und zwar wie der Wahlausschluss in den Jugendzentren gemeinsam mit den Jugendlichen bearbeitet wird. Wird da mit den JugendarbeiterInnen darüber gesprochen, also sprechen die JugendarbeiterInnen mit den Jugendlichen darüber?
Ilkim Erdost: Ja, also wir haben, vielleicht darf ich nur ganz kurz ausholen. In der offenen Jugendarbeit ist Demokratie, Beteiligung und Partizipation ein ganz, ganz großes Querschnittsthema. D.h. bei uns werden Beteiligungsprozesse nicht nur, also auch, aber nicht nur über Wahlen und jetzt formale demokratiepolitische Entscheidungsprozesse abgehandelt. Da geht’s auch um Beteiligungsprozesse für Grätzelumgestaltungen, Parkanlagen, Vernetzung mit Bezirken, Bezirksparlamente etc. Und diese Vielschichtigkeit in der demokratischen Mitbestimmung, die Jugendliche bei uns erleben, die versuchen wir sozusagen anzureichern. Also das es nicht nur unter Anführungsstrichen, das es diesen formalen Prozess gibt, wo es um Wahlen geht, der sehr, sehr wichtig und unersetzbar ist.
Aber gleichzeitig gibt es sehr, sehr viele verschiedene andere Entscheidungsmöglichkeiten oder Mitbestimmungsmöglichkeiten, auf die wir aufmerksam machen und die wir erlebbar machen. Ein Beispiel sind da eben z.B. die Bezirksparlamente, die wir gemeinsam machen, wo Jugendliche mitbestimmen über Budgets, die sie für den öffentlichen Raum einsetzen können oder jetzt unlängst hat’s ein sehr groß angelegtes Partizipationsprojekt der Stadt Wien gegeben, die Werkstatt Junges Wien, wo 22.000 junge Menschen gefragt worden sind, nach ihren Wünschen für die Stadt und diese Wünsche in die Kinder- und Jugendstrategie eingeflossen sind und da sind wir ein wichtiger Teil davon. D.h. das sind diese vielschichtigen Möglichkeiten, dass sich institutionell Jugendliche einbringen können. Das ersetzt allerdings nicht den formalen Entscheidungsprozess. Also die Möglichkeiten ein Parlament zu wählen oder Rathaus, einen Gemeinderat, einen Landtag, mitzubestimmen, sich auch sozusagen parteipolitisch, weltanschaulich zu größeren Fragestellungen zu äußern, das wird dadurch nicht ersetzt. Es ist eine Einstiegshilfe und es kann sozusagen den demokratischen Entscheidungsprozess erlebbarer machen und im eigenen Sozialraum spürbar machen.
Darüber hinaus partizipieren wir aber auch und kooperieren wir nicht zuletzt auch mit SOS Mitmensch bei der Pass Egal Wahl, wo viele Probewahlen stattfinden im Vorfeld von Wahlen. Wir haben über alle unsere Einrichtungen letztes Mal auch bei der Pass Egal Wahl wieder viele, viele Stimmen sozusagen mitbringen können und einführen können. Ist tatsächlich, man darf es nicht unterschätzen, gerade für Jugendliche immer auch etwas sehr aufregendes und durchaus etwas das immer wieder sehr bewegt und motiviert. D.h. gerade, wir merken auch immer wieder in der praktischen Arbeit, wie sehr auch Demokratie und Mitbestimmung mit Wohlbefinden und einer Emotion verbunden sind. Dass das auch etwas Aufregendes ist, wenn wir wählen gehen und mitentscheiden dürfen, auch wenn der formale Akt etwas so basales ist. Eigentlich ist es ja nur ein Zettel, auf den man quasi ein Kreuz macht und vielleicht gibt man noch eine Vorzugsstimme oder so. Es ist nicht wahnsinnig kompliziert, aber es ist eine große Aufregung dahinter. Und das spüren wir auch, auch bei Probewahlen. D.h. diese verschiedenen Instrumente setzen wir ein und sind bei uns allerdings sozusagen permanent in vielen, vielen verschiedenen Bereichen und zu vielen verschiedenen Zeitpunkten denkbar.
Magdalena Stern: Vielen Dank. Eine weitere Frage geht an die Tekla und zwar wird da gefragt, wann und warum hast du dich am zum ersten Mal geärgert, dass du in Österreich nicht wählen und mitbestimmen darfst?
Tekla Scharwaschidze: Ja, danke für die Frage. Wann und warum? Ich glaub das war dann eigentlich schon sehr früh in der Schule der Fall mit 16, wo meine Klassenkameraden dann schon in das Alter gekommen sind, wählen gehen zu können und hier auch der Diskurs angefangen hat und ich mich auch näher damit beschäftigt habe, warum ich nicht wählen gehen kann. Natürlich mit 16 sind die Interessen sehr verschieden, aber in unserer Klasse war das wirklich der Fall, dass wir auch sehr politisch interessiert waren und hier auch sehr viel darüber gesprochen wurde in der Klasse. Wir haben uns über die Parteiprogramme informiert und da ich dann auch miteinbezogen wurde in dieses Gespräch, kam auch bei mir das Gefühl auf, ok, ja, jetzt red‘ ich halt darüber, aber kann meine Stimme nicht abgeben und deshalb war’s für mich persönlich unglaublich wichtig schon in diesem jungen Alter hier zu kommunizieren, wie wichtig es ist wählen zu gehen, weil ich es nicht kann. Und es war auch schon sehr früh der Fall. Also mit 16 hat’s angefangen und in meinem Freundeskreis vor allem, dass ich dann nicht wählen gehen durfte, weil sie es konnten. Und das hat mich dann geärgert.
Magdalena Stern: Danke Tekla. Dann gibt es eine weitere Frage, die ich jetzt mal so in die Runde stelle, wer auch immer antworten möchte. Und zwar: Wären Jugendliche oder Menschen ohne Wahlrecht bereit für ein Wahlrecht zu kämpfen bzw. zu demonstrieren? Wer möchte da antworten?
Derai Al Nuaimi: Ich kann gerne anfangen. Wir haben mit der „Black Lives Matter“ Bewegung etwas gesehen, was für viele nicht neu, also für die Leute, die aus dem Feld, sowieso nicht neu, aber für viele, was uns ziemlich stolz gemacht hat als Jugendliche. Wir haben da etwas gesehen, das quasi ein gesellschaftliches Problem adressiert wurde und da einfach Menschen für andere Menschen, die sich eigentlich gar nicht kennen oder auch welche, die sie kennen auf die Straße gehen und demonstriert haben. Und das waren großteils Jugendliche. Die für eine inklusive Gesellschaft demonstriert haben, die für Antirassismus demonstriert haben, die für gleiche Menschenrechte für alle demonstriert haben. Und auch davor mit der „Friday‘s for Future“ Bewegung haben wir auch gesehen, wozu Jugendliche in der Lage sind, wenn sie sich selbst organisieren, wenn sie für etwas kämpfen wollen. Dass Jugendliche das können und dazu in der Lage sind in Österreich, speziell in Wien, das ist außer Frage. Die Sache ist immer, welchen Zugang man dazu hat. Ich denke, wenn es da eine Initiative gibt, dann wären da Jugendliche bereit zu demonstrieren dafür. Nicht nur Jugendliche, die davon betroffen sind, sondern auch andere, die nicht davon betroffen sind. Nicht nur Jugendliche wie ich jetzt, ok, ich war mal davon betroffen.
Ich bin jetzt nicht mehr davon betroffen, weil ich habe mittlerweile die Staatsbürgerschaft, nicht nur für Leute wie ich, die sagen, ja, ok, aus Solidarität usw., sondern auch Jugendliche, die einfach das Problem nie kannten, nie kennen. Und ganz speziell auch Jugendorganisationen würden da mitmachen. Ich denk mir schon, dass die Bereitschaft da ist. Die Frage ist immer nur der Zugang und inwiefern das, also Demonstrationen und Bewegungen sind auch ganz oft, also entstehen durch verschiedenste Faktoren. Aber die Bereitschaft gibt es und die Möglichkeit auch und den Willen denk‘ ich auch. Also das kann ich mir vorstellen, wenn das so weiter geht, dass das auch irgendwann bevorsteht, solche Demos.
Magdalena Stern: Vielen Dank. Dann gibt’s noch eine Frage an den Gerd. Und zwar, ob sich dieses Problem auch in anderen großen europäischen Städten stellt oder ob Wien hier eine Sonderrolle hat?
Gerd Valchars: Beides, würd‘ ich sagen. Also das Problem ist eines, das man nicht nur in Wien kennt, sondern auch in anderen Städten in Österreich. Und das Problem ist natürlich auch eines, das man in anderen Städten in Europa kennt, aber man muss dazu sagen, dass eben das Staatsbürgerschaftsrecht in Österreich im europäischen Vergleich ausgesprochen restriktiv ist. Und deshalb verschärft sich in Österreich und in den Städten in Österreich das Problem eben viel stärker als dies in anderen Staaten der Fall ist. Jeder europäische Vergleich bringt dasselbe Ergebnis: Österreich ist, egal wie man es misst, am restriktiven Ende, was das Einbürgerungsrecht betrifft. Und das wirkt sich natürlich dann auf diese Zahlen aus. Aber wir kennen das genauso das Phänomen von Städten wie Berlin beispielsweise oder Basel, Luxemburg, jetzt wollte ich sagen, wurde schon erwähnt heute, aber das war in einer anderen Diskussion. Ich bin schon ein bisschen verwirrt. In Luxemburg war’s sogar, ist der Anteil schon sehr, sehr hoch. D.h. das sind kleine Städte, zum Teil, kleine Staaten und Städte, die stark durch Migration, durch Pendeln beispielsweise auch, gekennzeichnet sind und wo sich das dann natürlich stärker bemerkbar macht.
Magdalena Stern: Danke.
Tekla Scharwaschidze: Ich würd da noch kurz ansetzen beim Gerd. Mich würde sehr interessieren, wie weit so kleine Anpassungen überhaupt möglich sind, Lösungsansätze, weil ja, das Wahlrecht ist ja ein Teil der Bundesverfassung und um hier Veränderungen zu ermöglichen, müsste es eine verfassungsrechtliche Änderung geben. Also, wie wahrscheinlich ist das? Oder durch eine Volksabstimmung? Wie wahrscheinlich ist es, dass es umgesetzt werden kann? Auch so kleine Anpassungen, wie wir erwähnt haben.
Gerd Valchars: Da muss man differenzieren. Da kommt es darauf an, reden wir vom Staatsbürgerschaftsgesetz oder reden wir vom Wahlrecht. Das Staatsbürgerschaftsgesetz ist ein einfaches Gesetz, das wird von der Mehrheit im Nationalrat und dem Bundesrat beschlossen. Änderungen sind da sogar relativ häufig. Allerdings sind die Änderungen, die in den letzten Jahren beschlossen worden sind fast ausnahmslos welche, die sozusagen in die restriktive Richtung gegangen sind. Also es gab eigentlich sukzessive fast ausschließlich Verschärfungen und nie Änderungen. Da muss man auch die Parteien in die Pflicht nehmen, die mitunter für eine Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts aufstehen. Jetzt, weil zu der Zeit wo sie selbst in der Regierung waren, haben sie nichts dergleichen gemacht. Bzw. auch nicht verhindert, dass es Verschärfungen gegeben hat.
Und was das Wahlrecht betrifft, da hast du vollkommen Recht, das ist eben in der Verfassung, im Bundesverfassungsgesetz geregelt. Auch für Wien, auch für die Bezirksebene. Das konnten wir feststellen, als in Wien das Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auf Bezirksebene Anfang der 2000er beschlossen wurde und dann vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben wurde, weil eben eine Änderung, was das betrifft, also eine Ausweitung des Wahlrechts auf Drittstaatsangehörige nur durch eine Verfassungsänderung, also eine Verfassungsmehrheit im Nationalrat auf Bundesebene, also 2/3 der Abgeordneten möglich ist.
Und damit stellt sich die Frage nach dem wie realistisch ist das? Ja, wir kennen die Mehrheitsverhältnisse, wie sie derzeit liegen. Wir haben jetzt auch aus den Statements auf Wiener Landesebene, aber die gleichen sich mehr oder weniger auch mit den Positionen auf Bundesebene, gehört. Also wir wissen welche Parteien da vorsichtig dafür, dafür oder dagegen sind. Damit können wir uns ganz gut ausrechnen, wie wahrscheinlich so eine Änderung ist. Aber ich würd’ sagen, wer will, dass es eine Änderung gibt, kann das zum Teil zumindest damit bewirken, also die Parteien, die für eine Änderung sind, stärkt. Also auf jeden Fall die, die ein Wahlrecht haben.
Ilkim Erdost: Ich möchte mich nur ganz kurz dazu schalten, weil ich ein bisschen eine Gefahr oder ein Risiko in der Diskussion sehe, wenn es zu sehr technisch in die Details geht, welche Finessen gäbe es noch, wo man es lösen könnte. Es gibt immer einen Punkt, wo dann, nachdem man quasi ausgetauscht hat, was die Problemlage ist, dann gibt’s einen Punkt, wo sozusagen auch von der Gegenposition aus immer argumentiert wird, naja, das kann man nicht machen. Und das ginge auch nicht und der Gerd hat vorher zum Beispiel das Gegenargument gebracht, es geht ja nicht, dass man das Wahlrecht quasi hier aushöhlt, in dem man es Personen gibt, die nicht die Staatsbürgerschaft haben. Und dann geht es plötzlich in der Diskussion plötzlich nur mehr um technische Fragen.
Eigentlich ist die Problematik jene, dass so viele Menschen ausgeschlossen sind und das ist ein demokratiepolitischer Skandal. Und der gehört behoben. So oder so oder so. Und es gibt eine schier endlose Auswahl an Möglichkeiten, wie es gemacht werden kann. Aber wir sind tatsächlich noch nicht so weit, dass es einfach von weithin her erkannt wird und wir diskutieren hier auch in einer recht qualifizierten Blase, sag ich dazu. Von vielen, vielen Menschen wird das Problem noch gar nicht erkannt. Also ich bin sehr häufig mit der Rückmeldung konfrontiert, dass ich gefragt habe, aber warum wollen die Leute die Staatsbürgerschaft nicht. Also sollen sie doch einfach ansuchen, geht doch. D.h. hier ist sehr, sehr viel Bewusstseinsbildung noch im Vorfeld nötig [Verbindungsprobleme] unverschuldet ausgeschlossen. Dass man hier ansetzen muss und ja, irgendwann geht’s dann auch um die technischen Details, wie man es rechtlich machen kann.
Aber ein bisschen meine Sorge, also gar nicht so als Kritik zu verstehen, sondern eher so als bisschen eine Sorge, ist, dass die Diskussion dann so ausfranst und wir uns auch mit Gegenpositionen dann auseinandersetzen müssen, wo es plötzlich nur um technische Details geht und das eigentliche Problem wird dann sozusagen vergessen oder fällt unter den Tisch.
Magdalena Stern: Vielen Dank, ich muss an dieser Stelle aus Zeitgründen leider den Fragenteil beenden. Alle Fragen, die wir jetzt im Rahmen der Diskussion nicht beantworten konnten, werden wir im Nachhinein per Email beantworten, wenn eine Emailadresse angegeben wurde und ich darf jetzt hiermit wieder an dich Alex übergeben.
Alexander Pollak: Vielen herzlichen Dank, wir kommen jetzt zu einer Abschlussrunde und ich möchte einfach mal so ein bisschen Optimismus/Pessimismus Barometer machen. Werden wir in fünf Jahren noch einmal die gleiche Frage diskutieren müssen oder wird‘s in fünf Jahren da schon, ja, zumindest spürbare Fortschritte sowohl bei der Problemerkennung der großen Zahl der Nicht- Wahlberechtigten als auch bei der Problembehebung geben und ich möchte wieder mit der Tekla anfangen.
Tekla Scharwaschidze: In fünf Jahren, naja, ich hoffe, dass sich was weiter entwickeln wird in der Frage und natürlich hier auch, diese Diskurs auch geschaffen wird und viel mehr darüber gesprochen wird, wie die Frau Ilkim auch gesagt hat. Mir wär‘s persönlich wichtig, dass ich das auch viel stärker, also viel diesen Diskurs auch stärker in meinem Freundeskreis unter meines Altersgleichen, unter Altersgleich vor allem und hier auch eventuell andere Perspektiven oder Perspektiven zu verändern Ansichten hier auch umzuschalten und ja, also in fünf Jahren, ich glaube da ist eine Bereitschaft da Veränderung anzukurbeln und ich glaube auch, dass junge Menschen das schaffen können und um auch Jugendliche ins Boot zu holen, muss man halt Politik machen, die für Jugendliche relevant ist, wie auch Derai gesagt hat und Jugendliche ernst nimmt und sie miteinbezieht.
Es ist ganz einfach, und wir haben auch, im Laufe dieses Jahres haben wir gesehen mit „Fridays for Future“, also dass die Jugend ernst genommen werden möchte, inklusive mir, und auch das Zeug hat Veränderungen anzukurbeln und oftmals mangelt es da nur einfach an Zumutung von der Seite von Erwachsenen und einfach auch nur hier unterstreichen, was ist das Ziel der Demokratie ist, eine partizipative Aushandlung von Rahmenbedingungen vorzunehmen, welche eine Selbstverwirklichung des Individuums ermöglichen, das ist ein Zitat von Hans-Jürgen Gaugel.
Diese Selbstverwirklichung spielt vor allem bei Jugendlichen eine große Rolle und um dieses politischen Interesse zu wecken und das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken, ist es unglaublich wichtig junge Menschen schon sehr früh entgegen zu kommen. Und dabei meine ich Kinder und Jugendlich aus verschiedensten Kreisen und in diesen fünf Jahren kann sehr vieles passieren.
Ich hoffe auch, dass Bildungseinrichtungen und Schulen dieses Thema aufgreifen, weil Schulen einen großen Einfluss ausüben können und jetzt vor allem bei der Wien-Wahl, das ist wichtig nicht nur politische Bildung zu machen, auch über Parteien zu informieren, das Parteiprogramm durchzugehen ...
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