
Dr. Tatiana Zhurzhenko "Ungewisse Zukunft der Ukraine stellt Geflüchtete vor Dilemma"
Dr. Tatiana Zhurzhenko forscht am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. 2014 bis 2018 betreute sie das Ukraine- und das Russland-Programm am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. In ihrem Statement zur #ZukunftUkrainer*innen-Initiative beschreibt sie die derzeitige Situation in der Ukraine und betont die Notwendigkeit langfristiger Perspektiven für Ukrainer*innen in Österreich:
Geflüchtete aus der Ukraine nur vorübergehend geschützt
"Geflüchtete aus der Ukraine genießen gemäß einer seit Kriegsbeginn geltenden EU-Richtlinie vorübergehenden Schutz. Dieser wurde um ein weiteres Jahr verlängert und gilt nun bis zum März 2024. Die damit verbundene Grundversorgung erlaubt das Überleben, bietet aber keine mittelfristige Lebensperspektive. Die Mehrzahl der Betroffenen sind Frauen mit Kindern sowie ältere Menschen. Viele Geflüchtete haben eine gute Ausbildung, doch wegen der niedrigen Zuverdienstgrenze bleibt ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert.
Die o.g. Richtlinie ist ein Notfallmechanismus, der Geflüchteten helfen soll, bis die Krise gelöst ist. Dank der raschen Reaktion der EU haben mittlerweile über 4 Millionen ukrainische BürgerInnen in europäischen Ländern temporären Schutz erhalten. Doch nun dauert der Krieg schon fast 20 Monate an, und ein baldiger Frieden scheint weiter entfernt denn je.
Kein Kriegsende in Sicht
Russland führt seinen Eroberungskrieg unvermindert weiter, hat die von ihm okkupierten Gebiete annektiert und macht kein Geheimnis daraus, dass es die Ukraine als Staat vernichten will. Die westlichen Sanktionen haben weniger bewirkt als erhofft. Russland kooperiert immer enger mit Ländern wie China, Iran und Nordkorea. Zugleich herrscht in der Ukraine Konsens, dass Friedensgespräche erst nach Wiederherstellung der Grenzen von 1991 möglich sind. Die ersten Erfolge der ukrainischen Armee im Jahr 2022 hatten Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges geweckt. Doch die ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung des okkupierten Südens brachte bis jetzt keine großen Erfolge. Westliche Beobachter befürchten, dass der Krieg zu einem langfristigen Konflikt wird.
Für die Zivilbevölkerung im Lande und für die ukrainischen Flüchtlinge außerhalb bedeutet dies, dass die Unsicherheit anhält. Zahllose Familien sind getrennt; die Kinder sind zwischen dem ukrainischen und dem österreichischen Schulsystem hin und hergerissen, weil sie nicht wissen, wo sie ihre Ausbildung morgen fortsetzen sollen; nur wenige Erwachsene finden gutbezahlte Jobs und bleiben so auf soziale Unterstützung angewiesen. Viele sind schließlich trotz des Krieges in die Ukraine zurückgekehrt, weil sie die Trennung nicht mehr aushalten, ihren Job zuhause nicht verlieren wollen oder weil sie es müde sind, am Rande des Existenzminimums zu leben.
Geflüchtete ohne Zuhause
Zahlreiche Geflüchtete haben kein Zuhause mehr, zu dem sie zurückkehren könnten. Der Krieg hat ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht, Wohngebiete entlang der Frontline liegen unter ständigem Feuer. Fast jeden Tag gibt es zivile Opfer. In die Gebiete, die 2022 von der ukrainischen Armee befreit wurden, kommt das Leben kaum zurück. In der Großstadt Kharkiv, die im Frühjahr 2022 halb leer war, leben jetzt wieder mehr als eine Million Menschen – viele davon allerdings Flüchtlinge aus der Umgebung. Nicht nur in Kharkiv findet der Unterricht an Universitäten und Schulen aus Sicherheitsgründen nur online statt. Die russischen Raketen fallen überall auf dem ukrainischen Territorium, doch bietet der Westen des Landes eine relativ höhere Sicherheit. Weil viele Binnenflüchtlinge aus dem Osten und Süden des Landes Zuflucht im Westen gefunden haben, fehlt es dort nun an Wohnungen und Jobs, und die steigenden Preise stürzen viele Menschen in Armut.
Ungewisse Zukunft der Ukraine
Der Winter 2022-23 hat gezeigt, dass es Russlands Strategie ist, die Willenskraft der Zivilbevölkerung zu brechen. Die überlebenswichtige Infrastruktur wird gezielt zerstört, um das Leben in den ukrainischen Städten zu paralysieren: Ohne Energie gibt es keine Wasserversorgung, der öffentliche Verkehr steht still und Wohnhäuser werden unbewohnbar. Wahrscheinlich wird dies nicht der letzte Kriegswinter sein.
Vor allem in den de-okkupierten und frontnahen Gebieten sind die Wohnhäuser und die zivile Infrastruktur zum größten Teil zerstört. In Kharkiv sind die Hälfte der Schulen und Kindergärten zerstört sowie 77 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen; mehr als 4000 Wohnhäuser sind reparaturbedürftig. Obwohl die Region Kharkiv zu den am härtesten betroffenen gehört, ist die Situation in mehr als der Hälfte der anderen Regionen nicht viel besser. Der Wiederaufbau hat punktuell begonnen, konzentriert sich aber auf das Notwendigste.
Vermintes Land
Am Lande ist die Situation oft noch dramatischer. Es sind hauptsächlich ältere Menschen, die dort geblieben sind; sie haben erschwerten Zugang zu Sozialleistungen und sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Ukraine ist das am stärksten verminte Land der Welt; jede Woche sterben Bauern auf dem Feld, Leute, die im Wald Holz sammeln, oder Kinder, die draußen spielen.
Geflüchtete brauchen echte Integrationsperspektive
Die ungewisse Zukunft der Ukraine stellt die Geflüchteten täglich vor ein Dilemma: Hier bleiben unter sozial und aufenthaltsrechtlich prekären Bedingungen oder heimkehren in ein Land, in dem vielleicht noch Jahre Krieg herrscht? Viel wäre gewonnen – für die Geflüchteten und für das Aufnahmeland – wenn Österreich eine echte Integrationsperspektive bieten würde, die zu einem Neuanfang ermutigt."
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