Verachtet und dennoch gebraucht
Zuverdienst streichen, Arbeitslosengeld kürzen, Mindestsicherung abschaffen – wie Arbeitslose als Mittel zur sozialen Abgrenzung eingesetzt werden. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk
Streichen, kürzen, sperren. Das sind die Zeitworte, die die Arbeitsmarktdebatte beherrschen. „Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht“, so hat Anny Mayr ihr Buch betitelt. Anny Mayr ist Redakteurin bei der ZEIT, Mama und Papa waren lange arbeitslos. Sie schreibt über ihre Kindheit und über das drohende Bild des Elends, zu dem Arbeitslose als Abschreckung benötig werden. Hierzulande wird auch wieder über das Arbeitslosengeld diskutiert. In üblicher Tonlage: Zuverdienst streichen, Arbeitslosengeld kürzen, Mindestsicherung abschaffen. Diese Debatte dient, so Mayr, „als Mittel der sozialen Abgrenzung nach unten einerseits und andererseits als ein Drohmittel, um Menschen dazu zu bringen, schlecht bezahlte prekäre Jobs anzunehmen.“ Die Schriftstellerin Annie Ernaux kommt, ähnlich wie Anny Mayr, auf die Erfahrungen von Demütigung und Beschämung zu sprechen. „Es war normal, sich zu schämen, als wäre die Scham eine Konsequenz aus dem Beruf meiner Eltern, ihren Geldsorgen, ihrer Arbeitervergangenheit, unserer ganzen Art zu leben. Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden.“
Streichen, kürzen, sperren. Christian Baron beschreibt in seinem Buch „Proleten, Pöbel, Parasiten“ die Anmaßungen und die Verachtung, die Arbeitslose auch in „gebildeten“ und „liberalen“ Kreisen erfahren. Er selbst erzählt eine ähnliche Geschichte seiner Familie wie Anny Mayr. Die Mehrzahl der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel hat den Eindruck, ihre Stimme zählt nicht. Studien des Max Planck Instituts zeigen auch, dass die Entscheidungen des deutschen Bundestages systematisch zugunsten oberer Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. Im Parlament wird das untere Drittel nicht repräsentiert. „Der Moment, in dem ich die Scham verloren habe, war in einem Gespräch mit einem Freund“, erzählt Anny Mayr. „Der sagte zu mir: Es ist doch das Recht eines Menschen, nicht zu verhungern. Genauso wie die Ampel in meiner Straße funktioniert und Schlaglöcher repariert werden, lässt man Familien in diesem Land eben nicht auf der Straße schlafen.“
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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