
Verlorene Werte
Noch nie wurde so viel von Werten gesprochen wie in der Ära der türkisen ÖVP. Wie ernst ist das zu nehmen, wenn zugleich humanitäre und demokratische Werte mit Füßen getreten werden? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Alexander Pollak
Wertebildung geschieht über Vorbilder. Die inneren Werthaltungen und Einstellungen einer Person zeigen sich in ihrem Verhalten und Handeln.“ So steht es in einem Einleitungssatz einer Werte-Broschüre für Kindergärten, die von der damaligen türkis-blauen Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde. „Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz“, nennt die Broschüre als Grundwerte. Und die Broschüre betont, wie wichtig es sei, „sich immer wieder mit dem eigenen Werteprofil auseinanderzusetzen und über die eigenen Werte und Einstellungen zu reflektieren“.
Reflektieren wir also ein wenig
Welche Werte vertritt etwa der inzwischen zum Bundeskanzler aufgestiegene frühere Außenminister Alexander Schallenberg, wenn er um keinen Preis akut gefährdete Frauenrechtsaktivistinnen aus Afghanistan aufnehmen will? Reicht es aus, von „Hilfe vor Ort“ zu sprechen, wenn Menschen um ihr Leben bangen?
Welche Werte vertritt Innenminister Karl Nehammer, wenn er es nicht einmal am Jahrestag des Terroranschlags von Wien schafft, sich für das massive Versagen des Verfassungsschutzes zu entschuldigen? Selbst auf mehrmaliges Nachfragen kommt ihm keine Entschuldigung über die Lippen. Auch nicht auf Bitte von Angehörigen der Opfer.
Welche Werte vertritt Integrationsministerin Susanne Raab, wenn sie keine Schritte unternehmen will, damit hier geborene Kinder rasch und unbürokratisch die österreichische Staatsbürgerschaft erlangen können und nicht wie Fremde behandelt werden? Und selbst den 12.000 hier geborenen Kindern, die von Staatenlosigkeit bedroht sind, baut sie bisher keine Brücke zur Staatsbürgerschaft.
Welche Werte vertritt eine Bundesregierung, wenn sie benachteiligte Kinder, deren Eltern nur ein niedriges oder gar kein Einkommen haben, im Regen stehen lässt, während sie zugleich Steuergeschenke an Großunternehmen und vergleichsweise gut situierte Familien verteilt? Was hat es mit „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ zu tun, wenn nicht die Kinderbeihilfe erhöht wird, sondern lediglich der „Familienbonus“, der all jene nicht unterstützt, die nichts haben?
Welche Werte vertritt eine große Regierungspartei, die als Beschuldigte in einem Korruptionsermittlungsverfahren geführt wird, wenn sie das nicht zum Anlass für eine selbstkritische Aufarbeitung nimmt, sondern mit frontalen Angriffen auf die Justiz reagiert, die wegen Korruption ermittelt?
Und welchen Wert vertritt der inzwi- schen zurückgetretene Kanzler, wenn er die von Jörg Haider in die österrei-chische Politik gebrachten rassistisch unterfütterten Spaltungs- und Fronten- bildungskampagnen in ein adrettes Slim-Fit-Gewand umkleidet und neu lanciert?
Die genannten Beispiele zeigen, dass gerade für jene in der Politik, die „Werte“ besonders gerne in den Mund nehmen, die Orientierung an Werten – von teils manipulierten Umfrage-Werten abgesehen – großteils zu einem Fremdwort geworden ist.
Die Werte-Broschüre für Kindergärten sollte daher dringend neu aufgelegt werden, diesmal jedoch nicht für Kindergartenkinder, sondern für die Mitglieder der Bundesregierung und des Parlaments.
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