Warum Mama im Wohnzimmer schläft
Mehr als die Hälfte der Alleinerziehenden in Österreich ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Sie sind unter den Erwerbstätigen die Gruppe mit höchster Armutsgefährdung, werden damit aber bis dato alleingelassen.
Text: Sophia Reiterer.
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Warum Mama im Wohnzimmer schläft? Damit wir Kinder uns das zweite Zimmer in der 40-Quadratmeter-Wohnung teilen können. Abends wird die Ausziehcouch zum Bett, und morgens wieder zur Couch. Nach dem täglichen Umbau ist auch schon Zeit für Frühstück. Es ist Ende des Monats, die Cornflakes-Portionen fallen etwas kleiner als sonst aus. Mama denkt, wir merken das nicht.*
Die Geldfrage: Im Schnitt „kostet“ ein Kind in einem Alleinerziehenden-Haushalt 900 Euro im Monat, Unterhaltsvorschuss sind aber durchschnittlich nur rund 300 Euro.
„Ein-Eltern-Familien haben ein höheres Armutsgefährdungsrisiko als andere Familientypen“, erläutert Karin Heitzmann, außerordentliche Universitätsprofessorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. In Österreich sind rund 52 Prozent der 270.000 Ein-Eltern-Haushalte armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle liegt bei 1.392 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt, bei einer Person mit einem Kind unter 14 Jahren beträgt sie 1.810 Euro.
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MIT VOLLZEIT VEREINBARE KINDERBETREUUNG FEHLT.
EIN DILEMMA FÜR ALLEINERZIEHENDE.
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„In Österreich wird davon ausgegangen, dass die ökonomische Absicherung einer Familie in erster Linie über die Beteiligung beider Eltern am Erwerbsarbeitsmarkt erfolgt“, erklärt Heitzmann. Der Ein-Eltern-Familie fehlt aber ein Erwerbseinkommen. Wenn dieses wegfällt, helfe der Sozialstaat zwar mit Ersatzleistungen, die aber niemals so hoch ausfallen wie ein zweites Einkommen.
Dass der Sozialstaat Armut durch Ersatzleistungen auffangen kann, zeigen die Zahlen. „Ohne Sozialleistungen wäre die Armutsquote von Ein-Eltern-Familien in etwa doppelt so hoch“, sagt Heitzmann. Allerdings ist es gar nicht so einfach, diese Sozialleistungen zu beziehen.
In Österreich werde davon ausgegangen, dass die ökonomische Absicherung durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile erfolgt, erklärt Karin Heitzmann von der WU Wien.
Eine Zeitfrage
„Alleinerziehende können nicht sechs Stunden Formulare ausfüllen und schauen, welche Fristen sie wann einzuhalten haben“, meint die Geschäftsführerin der Österreichischen Plattform für Alleinerziehende Doris Pettighofer dazu. Fragen wie „Welche Leistungen hängen an der Familienbeihilfe?“ oder „Wie mache ich einen Unterhaltsantrag bei Gericht?“ stellen Alleinerziehende vor große Herausforderungen. „Die Leistungen sind ja da, aber sie müssen optimiert werden“, sagt Pettighofer. Eine zentrale Forderung der Österreichischen Plattform für Alleinerziehende ist, dass vor allem das Antragssystem endlich vereinfacht werden müsse. Zum Wegfall eines Einkommens kommt zusätzlich die Betreuung der Kinder. „Ein Elternteil muss dann den Bedarf oft allein decken“, berichtet die Geschäftsführerin der Plattform. Vollzeitarbeit geht sich aufgrund der Betreuungssituation nicht aus, mit einer Teilzeitstelle können die laufenden Kosten nicht gedeckt werden – ein Dilemma, das Alleinerziehende oft meistern müssen.
Die Situation für Alleinerzieher:innen müsste der Politik bekannt sein. Schon im Jahr 2011 waren knapp 30 Prozent der Alleinerziehenden in Österreich armutsgefährdet, heute sind es mehr als die Hälfte. Eine Anfrage des MO-Magazins an Familien- und Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP) dazu blieb unbeantwortet. Flächendeckende Kinderbetreuungsplätze, die eine Vollzeitarbeit ermöglichen, fehlen bis heute an vielen Orten. Laut Kindertagesheimstatistik der Statistik Austria waren im Kindergartenjahr 2022/2023 nur rund 47 Prozent der drei- bis sechsjährigen Kinder in vollzeittauglicher Betreuung. Bei den unter Dreijährigen waren es nur 18 Prozent.
Laut Doris Pettighofer, Geschäftsführerin der Österreichischen Plattform für Alleinerziehende, formulieren Kinder in Alleinerzieher-Familien oft keine Wünsche mehr. Es gehe um das Heute.
Höhere Kosten
Kinder in Ein-Eltern-Haushalten kosten fast das Doppelte als in traditionellen Familien mit zwei Eltern, die im selben Haushalt leben. Dies ist ein zentrales Ergebnis aus der Kinderkostenstudie 2021, die von der Statistik Austria im Auftrag des Sozialministeriums durchgeführt wurde. So kostet ein Kind in einem Zwei-Erwachsenen-Haushalt durchschnittlich 494 Euro pro Monat. In einem Ein-Erwachsenen-Haushalt kostet ein Kind hingegen 900 Euro, denn hier fallen Fixkosten wie die Miete oder Betriebskosten meist auf nur eine Person. „Es kommt also nicht nur auf das Einkommen an, sondern auch auf die Verteilung“, schließt Pettighofer.
Manchmal schläft Mama nachmittags beim Fernsehen ein. Sie ist müde, weil sie viel rechnen muss. Wenn wir im Bett sind, dann ist es kurz ruhig in der Wohnung. Diese Zeit nutzt Mama, um zum zigsten Mal einen Haushaltsplan aufzustellen, nur um zu merken, dass es sich hinten und vorn nicht ausgeht. Dann wird die Couch wieder zum Bett umfunktioniert und Mama versucht zu schlafen. Alle zwei Wochen sind wir Kinder bei Papa. Das ist so abgemacht und das passt auch für alle. Papa zahlt Unterhalt, 300 Euro pro Kind pro Monat. Manchmal vergisst er es, da muss Mama ihn daran erinnern. Manchmal vergisst sie auch, ihn daran zu erinnern. Oder sie hat keine Kraft dazu.
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AUSBLEIBENDE UNTERHALTSZAHLUNGEN.
SIND OFT DER GRUND FÜR DIE ARMUT.
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Unterhaltszahlungen oder das Ausbleiben dieses Geldes sind oft der Hauptgrund für die Armut von Alleinerzieher:innen und ihrer Kinder. Andrea Czak, Gründerin und Obfrau vom Verein feministischer Alleinerzieherinnen (FEM.A) sieht im aktuell geltenden Unterhaltsrecht und Unterhaltsvorschussgesetz die Verantwortung dafür, dass viele Alleinerziehende von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung betroffen sind. „Die Sätze sind viel zu niedrig“, stellt Czak fest. Bei durchschnittlichen Kinderkosten von 900 Euro im Monat sind die rund 300 Euro Unterhalt deutlich zu wenig. Dies ist auch ein Ergebnis aus der Unterhaltsbefragung, die ebenfalls von der Statistik Austria im Auftrag des Sozialministeriums durchgeführt wurde.
Zudem besagt die Studie, dass nur die Hälfte aller Unterhaltspflichtigen überhaupt Unterhalt zahlt. Wenn kein Unterhalt bezahlt wird, bekomme die Familie Czak zufolge Unterhaltsvorschuss, der im Schnitt 250 Euro pro Kind pro Monat beträgt. „36 Prozent der Kinder bekommen allerdings gar keine Zahlungen, auch keinen Unterhaltsvorschuss. Sie könnten durch eine Unterhaltsgarantie aus der Armut geholt werden“, erklärt Czak. Die Gründe sind vielschichtig: Der Vorschuss wird etwa nicht beantragt, weil viele nicht von ihrem Recht darauf wissen. Zudem muss eine Vereinbarung oder ein Gerichtsbeschluss vorliegen, damit der Vorschuss gewährt werden kann.
Durchs Alleinerziehen zur politischen Aktivistin geworden: Andrea Czak, Gründerin und Obfrau des Vereins Feministischer Alleinerzieherinnen (FEM.A).
Frauensache
Fast 90 Prozent der Alleinerziehenden in Österreich sind Frauen. Andrea Czak ist selbst eine davon. „Durchs Alleinerziehen bin ich zur politischen Aktivistin geworden“, erzählt sie. Durch die schlechte Behandlung im Familienrecht wurde ihr schnell klar, dass sie Frauen helfen wollte, sich selbst zu ermächtigen. „Wir Frauen müssen derartig unangenehm und lästig sein, dass die Politik endlich was ändert und was macht“, stellt Czak fest. Da viele aber nicht die Kraft oder die Zeit dazu hätten, setzen sich Interessenvertretungen wie FEM.A für die Frauen ein.
Wichtig zu erwähnen ist aber auch, dass es nicht nur Ein-Eltern-Haushalte gibt, bei denen Vater und Mutter getrennt leben und ein Elternteil den Großteil der Erziehung übernimmt. Es gibt Patchwork-Familien, es gibt Familien, in denen ein Elternteil das Kind alleine mithilfe künstlicher Befruchtung bekommt, es gibt queere Familien und Familien, in denen beide Elternteile getrennt leben und die Kinder gemeinsam erziehen. „Paarfamilien werden in der Gesetzgebung bevorteilt“, stellt Doris Pettighofer fest. Dies werde der Vielfalt an Familienformen nicht gerecht, die es in Österreich gibt. Deswegen fordere die Österreichische Plattform für Alleinerziehende eine Familienformen-Verträglichkeitsprüfung bei der Einführung neuer Gesetze, also ob Bestimmungen für verschiedene Familienformen taugen. Die wichtigste Frage dabei sollte sein: Funktioniert das Gesetz für die Kinder?
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ANDREA CZAK VON FEM.A: „36 PROZENT DER
KINDER BEKOMMEN KEINE ZAHLUNGEN.
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Politisch ist die Angelegenheit auch, wenn man Recht als Herrschaftsinstrument betrachtet, meint Andrea Czak: „Früher war die Justiz in Händen von Männern, heutzutage ist sie in den Händen rechtskonservativer Menschen.“ Die Gründerin von FEM.A befürchtet deshalb, dass feministische Gesichtspunkte in diesem Bereich nichts verloren hätten.
Mama hat Sorge, dass wir Kinder mitkriegen, dass wir arm sind. Am Wochenende machen wir als Familie manchmal Ausflüge zum See oder in den Park. Wir Kinder sind mit den wenigen Dingen zufrieden, die wir haben. Spontangeschenke oder Ausflüge ins Kino brauchen wir nicht.
„Kinder in Alleinerzieher-Familien sind nicht bescheiden, sondern ernüchtert“, stellt Doris Pettighofer fest. Sie formulierten Pettighofer zufolge oft keine Wünsche mehr ans Leben, weil es in der Familie immer nur darum gehe, die aktuelle Situation zu meistern. „Kinder bekommen sehr wohl mit, wenn mit ihren Eltern etwas nicht stimmt“, weiß Andrea Czak. „Sie entwickeln ein ganz feines Sensorium und verzichten dann oft von sich aus auf viele Dinge“, ergänzt sie. In Wirklichkeit seien sie aber beschämt durch die Armut, in der sie leben müssen. Hinzu kommt, dass ihnen durch die strukturelle Benachteiligung eine volle gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wird. Wenn eine Schulprojektreise ansteht, die 1000 Euro pro Kind kostet, so können sich diese viele Alleinerzieher:innen nicht leisten. Wer kann, spart andernorts, bittet Verwandte und Bekannte um eine finanzielle Unterstützung oder stellt unzählige Ansuchen für Unterstützung. Alles wird versucht, um den eigenen Kindern eine volle Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen.
Vielleicht hat Mama bald selbst ein Zimmer. Alle können dann auf der Couch fernsehen, bis ganz spät abends und danach in ihren eigenen Zimmern verschwinden.
*) Die Textstellen in Kursiv sind verdichtete und anonymisierte Erfahrungsberichte von alleinerziehenden Müttern, die von den interviewten Interessenvertreter:innen und von privaten Kontakten der Autorin geteilt wurden.
Sophia Reiterer ist Doktorandin der Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg und Projektmitarbeiterin bei Wissenschaft und Kunst. Ihre Themen sind Ungleichheit, Gender, Cultural Studies und Intersektionalität.
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