Was Kinder verdienen
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Respekt verdient sich jedes Kind, einfach so. Stattdessen heißt es fortan: Aufwachsen wie im sozialdarwinistischen Bewährungscamp. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Jetzt führen sie wieder Ziffernnoten in den ersten Volksschuljahren ein. Es gibt Schlimmeres, aber trotzdem: Kinder können in diesem Alter noch schwer zwischen sich selbst als Person und der Note unterscheiden, was dazu führt, dass der Kleine sich selbst als „Nicht Genügend“ sieht, nicht seine Rechenleistung. SchülerInnen werden dadurch konditioniert, einzig für die Note zu arbeiten. Was sie dann als erstes verlieren, ist die Freude und noch problematischer fürs Lernen: die Neugier. Die Benotung ist dazu noch massiv beeinflusst von der sozialen Herkunft.
Jetzt führen sie wieder das Sitzenbleiben ein. Es gibt Schlimmeres, aber trotzdem: Das Sitzenbleiben ist keine gute Maßnahme zur Erhöhung des Lernerfolgs sozial benachteiligter SchülerInnen. Die Wiederholung einer Klasse wird als massiver Misserfolg erlebt. Analysen von Tillmann und Meier zeigten, dass Leistungen von Sitzenbleibern schwächer sind als die normal versetzter SchülerInnen. Das Sitzenbleiben ist nicht für jede soziale Gruppe gleichbedeutend. Es betrifft viel stärker Buben als Mädchen und es wirft vor allem Kinder aus Haushalten mit geringerem sozialen Status aus der Bahn.
Jetzt kürzen sie die Mindestsicherung bei Kindern. Das ist sehr schlimm. Kinder werden in unsichere Existenzverhältnisse getrieben, was höhere Risiken in der Schule für sie bringt. Aus der Bildungsforschung wissen wir, welche Barrieren das aufbaut und welche Chancen das nimmt. Es macht sich eine Ideologie breit, dass man sich Respekt erst verdienen muss. Dass Kinder sich Respekt erarbeiten sollen. Dass das, was sie wie die Luft zum Atmen brauchen, eine Belohnung darstellt. Für Kinder stellt man sich das Aufwachsen offensichtlich als ein großes sozialdarwinistisches Bewährungscamp vor. Nur die Harten kommen durch. Doch Kinder sollen gut und angstfrei lernen und Leistungen erbringen können – und neugierig bleiben. Nobelpreisträger James Heckmann weiß, dass Kinder gut wachsen können, wenn sie ein waches Interesse an der Welt entwickeln. Den Unterschied macht die Neugier und die Weltzugewandtheit: Welt und Leben nicht als Überforderung sondern als Herausforderung erfahren zu können. Respekt ist kein Verdienst, Respekt ist die Voraussetzung.
Wenn man eine Gruppe verletzlich macht, bleibt das nicht ohne Wirkung. Wer damit rechnet, als unterlegen zu gelten, bringt schlechtere Leistungen. »Stereotype threat« wird dieser Effekt genannt, Bedrohung durch Beschämung. Umgedreht heißt das, dass die besten Entwicklungsvoraussetzungen in einem anerkennenden Umfeld zu finden sind, wo wir an unseren Erfolg glauben dürfen. Wo ich meinem Können traue, dort gibt es auch welche, die mir etwas zutrauen. Zukunft gibt es, wo wir an unsere Fähigkeiten glauben dürfen. Weil andere an uns glauben.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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