
Wer hat an Europas Grenzen noch das Recht, Rechte zu haben?
ANDERE ÜBER... Die EU reformiert das Asylrecht und treibt die Spirale an Abschottung, Abschreckung und Auslagerung voran. Auf der Strecke bleibt der Zugang zu Grundrechten. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Judith Kohlenberger
Der Anfang Juni erzielte Beschluss der EU-Innenminister*innen auf eine Reform des Asylrechts wird als „Durchbruch“, ja sogar als ein „historischer Moment“ der Einigung tituliert. Zwar müssen die Vorschläge der 25 Mitgliedsstaaten – Polen und Ungarn stimmten dagegen – noch im Europäischen Parlament verhandelt werden, dennoch zeichnet sich eine Verschärfung bestehender Regelungen durch pauschalierende Vorselektion Schutzsuchender, erschwertem Zugang zur Asylantragsstellung und Verfestigung des „Ausnahmezustands“ an Europas Grenzen ab.
Was auf dem Papier plausibel, mitunter sogar sinnvoll wirkt – schnellere Verfahren, rasche Abschiebungen, solidarische Verteilung von Geflüchteten – offenbart bei näherer Betrachtung eine schrittweise Aushöhlung des Rechts auf Schutz. Dabei wird nicht das Recht auf Asylantragsstellung als solches untergraben oder abgeschafft. Das offizielle Europa stellt weder die Genfer Flüchtlingskonvention, die Grundrechtecharta noch die EU-Aufnahmerichtlinie in Frage, sondern beruft sich im Gegenteil gerne und oft darauf. Immerhin, so der Tenor, wären das „unsere“ europäischen Werte, auf welchen die Union von jeher fußt.
Erschwert bis hin zu verunmöglicht soll aber der Zugang zu eben jenen Rechten werden, die diese Grundsatzdokumente gewährleisten, allen voran der Zugang zum Recht auf Asylantragsstellung. Diese ist, in den allermeisten Fällen, nur auf europäischem Grund und Boden möglich. Doch genau dorthin sollen Schutzsuchende im Idealfall gar nicht mehr gelangen, sondern durch allerlei kreative Konstruktionen, wie etwa Screenings, Vorverfahren an der Grenze oder rasche Rückführungen, abgehalten werden.
Eine so zynische wie elegante „Lösung“, bietet sie Europäer*innen doch die bequeme Illusion, human, verantwortungsvoll und vor allem grundrechtskonform zu handeln, während gleichzeitig die Spirale an Abschottung, Abschreckung und Auslagerung vorangetrieben wird. Dass der „Gürtel der Gewalt“, wie es die Journalistin Franziska Grillmeier in ihren Reportagen von der Peripherie Europas bezeichnet, mittlerweile einen integralen und nicht geahndeten Bestandteil des europäischen Asylsystems bildet, wird geflissentlich ausgeblendet. Ebenso wie die Tatsache, dass das schönste Recht auf dem Papier nichts wert ist, wenn es nicht in Anspruch genommen werden kann. Auf dem Spiel steht, frei nach Hannah Arendt, „das Recht, Rechte zu haben“.
Für dessen Aushöhlung zahlt Europa einen hohen Preis – im ökonomischen, aber auch im ideellen Sinne. Denn, wie Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem Buch „Hinter Mauern“ darlegen, je militanter Grenzen verteidigt werden, um die vermeintliche Ordnung dahinter vor Korrumpierung durch „das Fremde“ zu schützen, desto mehr ist diese Ordnung bedroht: Das Chaos der Gewalt und der offenen Rechtsbrüche greift dann ins Innere aus.
Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihr Buch „Das Fluchtparadox: Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen“ (Kremayr & Scheriau, 2022) war für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
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