Wir erleben ein Grassroots Movement
In Äthiopien und im Sudan fordern soziale Bewegungen Reformen und Mitsprache. Ein Gespräch mit dem äthiopischen Autor Surafel Wondimu über die Hintergründe der Proteste, Blumen aus Äthiopien und Ethnizität als europäischem Fetisch. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell
In jüngster Zeit haben sich Menschen in mehreren afrikanischen Staaten zu Aufständen gegen ihre Regierungen formiert. Es geht um Menschenrechte und Demokratie, um verordnete Modernisierung verbunden mit Zwangsenteignungen, so wie in Äthiopien, oder auch um gestiegene Lebensmittelpreise wie im Sudan. Dort begann alles mit den öffentlichen Forderungen nach einer Reform des Wirtschaftskurses. Als die Sicherheitskräfte die Aufstände mit brutaler Gewalt niederschlugen, forderten die DemonstrantInnen den Rücktritt des seit 30 Jahren autoritär regierenden Staatspräsidenten Omar al-Bashir. Es kam zu einem Putsch, al-Bashir wurde aus dem Amt gejagt, während Massenproteste und Generalstreiks fortgesetzt wurden. Nun forderte die Bevölkerung, dass eine Zivilregierung eingesetzt wird. Die BBC schätzte, dass zwei Drittel der Protestierenden Frauen waren. Ihre Rechte hatten sich seit der Einführung der Scharia besonders verschlechtert.
In Äthiopien hingegen kam es 2014 zu Protesten, als man begann, zahlreiche Bauern und Bäuerinnen zu enteignen, um das Land nach einem Masterplan zu modernisieren. Auch hier formierten sich Proteste, besonders viele junge Menschen schlossen sich im Land kurz. Seit 2018 erlebt das Land unter Premierminister Abiy Ahmed eine vorsichtige Liberalisierung. Politische Gefangene wurden freigelassen, mit dem langjährigen Kriegsgegner Eritrea ein Friedensvertrag abgeschlossen. Das VIDC (Vienna Institute for International Dialogue and Corporation) hat Ende Oktober eine Veranstaltung zur Situation in beiden Ländern organisiert. Die sudanesische Menschenrechtsaktivistin Nagda Mansour Adam erhielt vom österreichischen Außenamt überraschend kein Visum und konnte nicht nach Wien reisen. Man mag das Unverständnis darüber mit Franz Schmidjell vom VIDC teilen, der sich angesichts des Bekenntnisses Österreichs zur Stärkung des Dialoges über Demokratie und Menschenrechte an Dr. Jekyll and Mister Hyde erinnert fühlte. Das folgende Gespräch mit dem äthiopischen Autor und Intellektuellen Surafel Wondimu fand im Rahmen der Veranstaltung in Wien statt.
Äthiopien hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Proteste erlebt. Würden Sie sagen, es hat sich so etwas wie eine breite soziale Bewegung entwickelt?
Leute, die diese soziale Bewegung anführen, haben sie sogar als ‚Revolution’ bezeichnet. Diese Bewegung hat tatsächlich weitreichende Auswirkungen auf die ökonomische, politische und soziale Dynamik in Äthiopien. Sie ist sehr gut in der Bevölkerung verankert, sie hat sehr druckvoll in den Jahren 2014/2015 begonnen und ist als Fortführung früherer Protestbewegungen zu sehen, etwa der großen marxistischen Revolution von 1974. So etwas wirkt immer nach, das kann man daran sehen, dass die neue Regierung von 1991 bereits 1974 als Studenten aktiv waren. Die Akteure damals waren ideologisch sehr stark mit Klassenfragen beschäftigt, erst später entdeckte man die Nation als Thema und versuchte dann, Äthiopien nach ethnischen Grenzen neu zu organisieren.
Wie hat sich diese Ethnifizierung der Politik auf das Land ausgewirkt?
Als die Protagonisten von 1991 die Regierung stürzten, ging zur gleichen Zeit der Kalte Krieg zu Ende. Die ganze Weltpolitik wurde neu verhandelt. Vor diesem Hintergrund muss man auch ethnische Frage sehen, die keinesfalls isolierte Entwicklungen sind. In Europa gibt es einen regelrechten Fetisch, Konflikte in Afrika nur über Ethnizität und Tribalismus zu interpretieren. Das ist eine sehr verkürzte Sicht der Dinge, solche Entwicklungen wie derzeit in Äthiopien sind ganz stark in globale politische Prozesse eingebettet. Die Eliten ethnischer Gruppen konnten ihren Nepotismus erst durch Wirtschaftsdeals mit internationalen Unternehmen und anderen Staaten wie China und dessen Staatskapitalismus errichten. Das alles hat sich auch auf das alltägliche Leben in Äthiopien ausgewirkt.
Generieren sich daraus auch die jüngsten Proteste?
Die jungen Leute haben sich mit ihren Protesten gegen die massenhaften Enteignungen der letzten Zeit gestellt. Wir erleben in Äthiopien eine große Urbanisierungswelle, so wie übrigens auch in vielen anderen Ländern der Welt. 150.000 Bauern und ihre Familien wurden enteignet, gleichzeitig sehen wir, wie niederländische und türkische Investoren Blumenzuchten hochziehen. Da kommen auch Pestizide zum Einsatz, der insbesondere Frauen trifft, die hier arbeiten. Es kann gut sein, dass Sie Ihrer Partnerin Blumen schenken, die auf einer dieser Farmen gezüchtet wurden. Wenn man den Bogen also gedanklich schließt, dann zeigt sich, wie kapitalistische Interessen des Auslandes und die Eliten des Landes die Ethnifizierung verstärken und direkte Auswirkungen auch auf den Körper der Betroffenen selbst haben.
Um die gesellschaftlichen Formen des Widerstandes besser zu verstehen, könnte man da von einer Zivilgesellschaft sprechen, die sich formiert?
Das, was man im Westen unter Zivilgesellschaft versteht, ist etwas anderes als in unserem Land. Das gleicht sehr stark einem ‚grassroots movement’. Gruppen junger Leute formieren sich im ganzen Land – Äthiopien hat 110 Millionen Einwohner – und benutzen Social Media und ihre Smartphones, um sich zu koordinieren. Es bilden sich keine politischen Organisationen, die die Proteste tragen würden, sondern es geht in erster Linie darum, sich zu vernetzen.
Ist die Ethnizität der Eliten, wie Sie sagen, für die Jungen ein Thema?
Man könnte grundsätzlich sagen, dass Ethnizität immer als etwas Rückständiges gilt, aber wir sind sehr gegenwärtig in verschiedenster Hinsicht. Die jungen Leute haben eine ethnische Zugehörigkeit und zugleich haben sie ein Smartphone. Das Problem in Äthiopien in diesem Zusammenhang ist das Narrativ, dass man historisch eine Ausnahme war, dass man nie kolonisiert wurde. Obwohl Äthiopien natürlich unter dem Einfluss des Kolonialismus stand, hat dieses Narrativ letztlich eine erkenntnismäßige Auseinandersetzung über koloniale Wissensformationen verhindert. Auch die Italiener haben eine Landkarte des Landes nach ethnischen Gesichtspunkten entworfen, und ich würde sagen, das wirkt sich auch in der heutigen Politik noch aus.
Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Äthiopiens Präsident Abiy Ahmed für seinen Friedensschluss mit Eritrea kommt aber eine weitere internationale Dynamik ins Spiel. Würden Sie sagen, das spielt eine Rolle im Bestreben um eine stärkere Demokratisierung des Landes?
Wir haben tatsächlich in autoritären Verhältnissen gelebt, in denen sich etwa auch die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert hat. Aber allein durch Proteste lassen sich Würde und Humanismus noch nicht herstellen. Dafür braucht man Infrastruktur, auch einen Raum zur Bewusstseinsproduktion. Und selbst wenn der Staat etwas ändern möchte, ist sein Verhältnis das eines afrikanischen Staates zur so genannten entwickelten Welt. Es hat nie nur eine Form der Demokratie gegeben, gerade heute scheint es so, als gäbe es eine neoliberale Kategorie von Demokratie als einzigen Ausweg für Menschlichkeit. Die Frage ist, wie bewegen wir uns in diesem kategorischen Verständnis von Demokratie. Ich glaube wir müssen hart arbeiten, aber die Türen sind offen, dank der Anstrengungen der Menschen.
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