
Wünschen. Wollen. Machen.
Welche Rolle spielen NGOs? Braucht man sie in einer funktionierenden Demokratie überhaupt? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Heide Schmidt. Illustration: Petja Dimitrova
Die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger stellt in ihrem Buch „Wir“ (in der lesenswerten Reihe „Übermorgen“, Verlag Kremayr & Scheriau) ein Zitat der Anthropologin Margaret Mead (1901- 1978) voran: Auf die Frage einer Studentin nach dem ersten Zeichen für Zivilisation habe diese den Fund eines gebrochenen und zusammengeheilten Oberschenkelknochens genannt. Er sei der Beweis dafür, dass sich jemand Zeit für einen Verletzten genommen habe, indem er die Wunde verbunden und in Sicherheit heilen habe lassen. Für andere da zu sein, das sei für sie der Beginn der Zivilisation.
Ich halte das für den schönsten und klügsten Ausgangs- und Anknüpfungspunkt zum Thema Zivilisation. Diese führte einst zur Staatenbildung, welche aber zum richtigen Funktionieren auch eine starke Zivilgesellschaft braucht. So sind mit der Zeit nicht nur Demokratien entstanden, sondern nur so können sie auch bestehen bleiben und sich weiterentwickeln. Eine engagierte Zivilgesellschaft gehört zu den Lebensadern einer Demokratie und wenn sie sich organisiert, entstehen NGOs.
Die älteste große NGO ist das Rote Kreuz (1863 gegründet), die sich dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Würde des Menschen verschrieben hat. Die größte NGO ist amnesty international (1961 gegründet, rund 10 Millionen Mitglieder), deren Hauptanliegen der Kampf um und die Verteidigung der Menschenrechte ist. Diese NGOs erfüllen also Aufgaben, die eigentlich die Staaten und ihre Regierungen sowieso zu erfüllen hätten.
Wozu also die vielen, teils riesigen Parallelstrukturen? Weil unsere Welt sie braucht, weil die Staaten sie brauchen, weil die Menschen sie brauchen, die Gesellschaft als ganze ebenso wie das Individuum. Weil sie nämlich eine Ausfallshaftung übernehmen, eine Begleitung und Unterstützung, eine Kontrolle und Offenlegung, weil sie einen Beitrag zu Transparenz, Aufmerksamkeit und Bewusstsein leisten, weil sie die Interessen von sonst Ungehörten und Ohnmächtigen vertreten, weil sie Sprachrohr für Sprachlose sind. Und weil sie sich auch als Vermittler verstehen. Das trifft nicht nur auf die großen Organisationen zu, sondern auch auf die vielen kleinen, die innerstaatlich agieren. Zu deren Erfolg trägt noch eine weitere Facette bei: Unterstützer*innen können oftmals das Ergebnis ihrer Unterstützung unmittelbar sehen (Wohnraum für Geflüchtete geschaffen, Verbauung verhindert, erfolgreichen Rechtsbeistand organisiert ...). Ihr Beitrag war erfolgreich und wenn er es nicht ist (leider zu oft), wissen sie sich nicht allein mit ihrem Engagement und seinem Ziel. Sie sind Teil einer Gruppe, die Positives will, solidarisch ist, Verantwortung übernimmt. Sie sind nicht nur Einzelkämpfer*innen, sondern erhöhen ihre Erfolgschancen, indem sie sich vernetzen. Das ist die älteste Einsicht in die Aussicht auf Vorwärtskommen, für die „Guten“ ebenso wie für die „Bösen“.
Dazugehören zu wollen ist ein nicht zu unterschätzendes Bedürfnis. Das gilt für das private wie für das öffentliche Leben. Der Staat sollte sich dessen bewusster sein und seinen Bürger*innen dieses Gefühl stärker vermitteln. Durch Mitbestimmungs- und Kooperationsmöglichkeiten, durch Information und Anstand, durch sein Staatsbürgerschaftsrecht. Es wäre Medizin gegen die gefährliche Krankheit der Demokratiemüdigkeit.
Heide Schmidt: „Ich seh das so. Warum Freiheit, Feminismus und Demokratie nicht verhandelbar sind.“ Brandstätter Verlag, 2020.
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