Zuflucht finden, zuhause fühlen
Vor einem Jahr wurde in Linz das „Haus der Menschenrechte“ eröffnet. Hier kommen alle unter: Asylwerbende, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische in Not. Geschäftsführerin Sarah Kotopulos über ein erstaunliches Projekt, das unter schwierigen Umständen realisiert wurde. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Milena Österreicher, Fotos: Andreas Hroß
Vor über zehn Jahren als Idee geboren, seit Mai 2019 Realität: Das „Haus der Menschenrechte“, das 65 Menschen ein Zuhause bietet. Eine Unterkunft für AsylwerberInnen und für Menschen in Notlagen – mit und ohne Migrationshintergrund. Der Verein „SOS-Menschenrechte“ betreibt das Haus in der Linzer Rudolfstraße 64. Außerdem bietet er zahlreiche Projekte an: Von Workshops über Armut, in Zusammenarbeit mit der Straßenzeitung „Kupfermuckn“, bis zu Menschenrechtsbildung an Schulen.
Die Generalsanierung des Gebäudes dauerte zweieinhalb Jahre. Kostenpunkt: mehr als zwei Millionen Euro. Über die anfängliche Zurückhaltung der Politik und die enorme Unterstützung der Zivilgesellschaft erzählt Geschäftsführerin Sarah Kotopulos im Gespräch.
Wie war es möglich so ein Projekt aufzuziehen? Gab es Unterstützung seitens der schwarz-blauen Landesregierung oder der rot-blauen Linzer Stadtregierung?
Wir hatten mehr als 40 politische Gespräche mit dem Land Oberösterreich und der Stadt Linz. Wir sprachen hier mit Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) und Bürgermeister Klaus Luger (SPÖ). Es war ein Ping-Pong-Spiel, niemand fühlte sich zuständig. Die in Aussicht gestellte Wohnbauförderung wurde schließlich von Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner (FPÖ) überraschend und kommentarlos abgelehnt. Diese Entscheidung war für den Verein wie ein Schlag ins Gesicht für die über 20-jährige Menschenrechtsarbeit in Oberösterreich. Die Situation war angespannt, die Infrastruktur im Haus schon sehr schlecht mit wöchentlichen Wasserschäden und dringend sanierungsbedürftigen Sanitäranlagen in dem 120 Jahre alten Haus. Also beschlossen wir im Sommer 2015 es selbst in die Hand zu nehmen und starteten die Kampagne „Dach über dem Kopf“.
Mit der Kampagne wurden rund 800.000 Euro gesammelt. Wie kam diese hohe Summe zustande?
Der Rückenwind war enorm. Wir waren über den Zuspruch überrascht. Es wurden überall Spendenboxen aufgestellt: auf Geburtstagsfeiern, bei Taufen und Begräbnissen. Es spendeten an die 1700 Menschen. Weitere 600.000 Euro kamen von alternativen nachrangigen Darlehen und der Rest von einem Bankkredit. Und schlussendlich, als die Politik sah, dass wir dranblieben, sind Landeshauptmann und Bürgermeister auch bei der Finanzierung aufgesprungen. Wir haben schließlich das erste Haus der Menschenrechte Österreichs ausgerufen und da wollten sie im Endspurt doch auch dabei sein. Eine besondere Geschichte ist die einer Nachbarin. Sie rief eines Tages an und sagte, sie habe gelesen, dass wir Spenden bräuchten. Sie hatte ihr Leben lang auf eine Eigentumswohnung gespart. Jetzt fühlte sie sich aber so wohl in ihrer Genossenschaftsmietwohnung und brauche keine andere. Daher wollte sie das Geld spenden und so 65 Menschen ein Zuhause schenken. Wir machten eine Hausführung mit ihr. Sie kündigte dann an am nächsten Tag 100.000 Euro zu überweisen. Man glaubt ja fast nicht, dass es so selbstlose Menschen gibt, aber am nächsten Tag war wirklich das Geld am Konto.
Hatten Sie Zweifel diese Spende anzunehmen?
Nein, Zweifel hatte ich keine, da ich genau weiß, wie sinnvoll und nachhaltig die Spenden bei uns eingesetzt werden. Auch wir selbst, das Team und der Vorstand haben viel Geld, Zeit und Knowhow in das „Haus der Menschenrechte“ gesteckt, weil wir überzeugt sind, dass es das Haus und den Verein dringend braucht. Das Engagement für die Aktion „Dach über dem Kopf“ wäre im Gesamtumfang unbezahlbar gewesen.
Das „Haus der Menschenrechte“ bietet 65 Menschen ein Zuhause. Ist es derzeit voll belegt?
Momentan gibt es – so wie in anderen Asylunterkünften österreichweit – einen Leerstand. Derzeit wohnen 16 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und 14 erwachsene Asylwerbende bei uns. In den Startwohnungen für Menschen in Notlagen sind wir mit 13 MieterInnen voll ausgelastet, der Bedarf wäre aber größer. Viele Menschen sind hier in Linz von Genossenschaftswohnungen ausgeschlossen, da sie noch nicht fünf Jahre in Oberösterreich gemeldet sind und keinen Anspruch auf Wohnbeihilfe haben – die Zeit des Asylverfahrens zählt nicht. Sie müssen sich daher auf dem privaten Wohnungsmarkt umsehen, was für sie oft schwierig ist, etwa weil sie einen Migrationshintergrund haben.
Einige Mieterinnen sind auch Frauen aus Gewaltbeziehungen mit ihren Kindern. In der Akutsituation können sie in ein Frauenhaus, aber danach? Wo können sie dann hingehen?
Aufgrund der Covid-19-Situation können wir niemanden persönlich treffen. Können Sie von den BewohnerInnen erzählen?
Eine Bewohnerin ist zum Beispiel eine unbegleitete minderjährige Asylwerberin. Sie kam mit 15 Jahren zu uns. In Nigeria lebte sie bei ihrem Onkel. Als dieser starb, begann die Tante sie sehr schlecht zu behandeln, fast wie eine Sklavin. Sie ist daraufhin davon gelaufen, lebte eine Zeit lang auf der Straße und ist Menschenhändlern in die Hände geraten. Ihr wurde viel versprochen: Dass sie im Ausland in einem Kindergarten mithelfen oder in einem Restaurant arbeiten könne. Sie kam mit Schleppern nach Libyen in ein Auffanglager. Dort wurde es noch schlimmer, mehrere Männer haben sie am Tag vergewaltigt. Schlussendlich gelang ihr die Flucht nach Italien. Dort dachte sie, der Horror sei endlich vorbei, denn sie sei ja jetzt in Europa: Dort, wo die Menschenrechte gelten. Aber es ist weitergegangen mit dem Zwang zur Sexarbeit. Man glaubt, es sei „nur“ eine Flucht, aber es sind so viele, von einem Horror zum Nächsten. Das kann man sich oft gar nicht vorstellen. Ihr ist schließlich die Flucht nach Österreich gelungen. Sie kam in eine Erstaufnahmestelle und dann zu uns.
Wie ist es für das Mädchen ausgegangen?
Eine intensive Therapie ist notwendig bis die jungen Menschen über das Erlebte sprechen können. Wir versuchen wieder Vertrauen und ein positives Menschenbild aufzubauen. Das ist schwierig, denn es waren Menschen, die ihnen all das angetan haben, keine Naturkatastrophen oder Ähnliches. Die lange Unsicherheit der Asylverfahren ist dabei ebenso hinderlich. Diese Kinder brauchen Sicherheit. Das Mädchen hat letztendlich einen positiven Asylbescheid bekommen und ist mittlerweile schon ausgezogen. Bei ihr ist es gut ausgegangen. Sie lebt jetzt in einer eigenen Wohnung und erhält sich selbstständig. Wir hatten aber auch schon einige Mädchen, wo die Vermutung nahe liegt, dass sie in Österreich wieder in die Sexarbeit geraten sind, weil sie aus dem Menschenhandelsring nicht herauskamen.
Wie werden die Wohnplätze, Therapien und die Betreuung finanziert?
Die Miete der Startwohnungen kostet zwischen 100 und 230 Euro mit allem inkludiert. Es sind sozialpädagogische Mietverträge, das heißt sie sind beispielsweise an Beratungen gebunden. Die unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen müssen wir rund um die Uhr betreuen. Sie bekommen nur die Hälfte des Tagsatzes, den ein österreichischer Jugendlicher in einer Fremdunterbringung bekommt. Es kann nicht sein, dass wir hier in einem der reichsten Länder der Welt leben und mit zweierlei Maß messen. Wir sind daher auch Teil der Kampagne „Keine halben Kinder!“. Ein Kind ist ein Kind. Nur über den Tagsatz ist die intensive Betreuung schwer finanzierbar, deshalb schießen wir Spenden hinzu. Wir haben auch RechtsberaterInnen, externe TherapeutInnen und um die 100 Freiwillige, die uns unterstützen.
Welche Bilanz ziehen Sie ein Jahr nach der Eröffnung?
Es war eine unglaubliche Kraftanstrengung all das auf die Beine zu stellen. Aber wir merkten vom ersten Tag an, dass unsere BewohnerInnen sich im neuen Haus total wohlfühlen. Das strahlt sich auch positiv auf die Stadt Linz aus. Viele Menschen wollen Hausführungen machen und in Ausbildungen auf FHs sind wir mittlerweile ein Fixpunkt. Wir haben ein Statement gesetzt, räumlich und gesellschaftspolitisch.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf das Haus?
Ich habe viele schlaflose Nächte, die Krise bereitet mir Kopfzerbrechen. Projekte pausieren, Förderungen werden gekürzt. Unsere Betreuung muss aber weiterlaufen, daher brauchen wir Spenden für diese vielen zusätzlichen Ausgaben. Ich habe aber auch die Zuversicht, dass wir als Gesellschaft weiterhin an andere Menschen denken, die Schutz brauchen und die es noch schlimmer trifft. Menschenrechtsarbeit ist kein Ziel, sondern ein ständiger Weg.
Milena Österreicher arbeitet als freie Journalistin, Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch sowie als Sprachtrainerin.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo