Zusammen durch die Ungewissheit
Wie kommen wir gut durch die gegenwärtigen Krise(n)? Psychologin Silvia Exenberger über Resilienzförderung, wie sich Krisen auf die Gesellschaft auswirken und die Wichtigkeit von Gemeinschaft in unsicheren Zeiten.
Interview: Nadja Riahi, Fotos: Martin Vandory.
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Silvia Exenberger ist Klinische, Gesundheits- und Entwicklungspsychologin und arbeitet in Tirol. Sie forscht zu den Fragen, wie es Kindern und Erwachsenen während einer Krise, etwa der Covid-19-Pandemie, oder nach Krisen in Hinblick auf Langzeitfolgen geht, beispielsweise nach dem Tsunami im Indischen Ozean oder der Apartheid in Südafrika. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Verena Wolf leitet sie das „Institut für Positive Psychologie und Resilienzforschung“.
MO-Magazin: Wir sind derzeit mit multiplen Krisen konfrontiert. Was macht das mit unserem Wohlbefinden?
Silvia Exenberger: Rückblickend war die Covid-19-Krise der Anfang einer Zeit mit kollektiven Krisen. Nach und nach sind weitere Krisen dazugekommen: Die Klimakrise, der Ukrainekrieg, der Nahostkonflikt und die Inflation. Wir haben während der akuten Covid-19-Krise Daten gesammelt, die uns gezeigt haben, dass die Pandemie vor allem psychische Auswirkungen hat.
Inwiefern?
Die Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit machen uns Angst. Dazu können noch Gefühle wie Hoffnungslosigkeit und Machtlosigkeit kommen. Wenn wir uns zurückerinnern, dann wissen wir, dass wir uns damals sehr früh damit beschäftigt haben, wie wir psychisch am besten durch die Covid-19-Krise kommen. Das Credo war, in den unvorhersehbaren Alltag wieder eine Struktur und Routine zu bringen. Das ist das Um und Auf. Bei Kindern ist das sehr wichtig, die üblicherweise wissen, welches Fach als nächstes unterrichtet wird oder wann der Schultag zu Ende ist. Wenn uns die Planbarkeit genommen wird, dann müssen wir uns darum kümmern, in unserem Mikrosystem eine Struktur zu etablieren.
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„IN KRISENZEITEN IST WICHTIG,
STRUKTUR UND ROUTINE IN DEN ALLTAG ZU BRINGEN“
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Ohne Struktur oder Entscheidungsmacht können wir in ein Gefühl der Ohnmacht fallen. In den Anfängen der Covid-19-Krise konnten wir an den Lockdownbedingungen und Regeln jedoch nichts ändern. Was hilft in solchen Situationen?
Wir Menschen sind als Individuen in verschiedene Systeme eingebettet. Das kleinste System ist das familiäre Umfeld und der Freundeskreis und das allergrößte System die Gesellschaft mit Politik und Kultur. Wenn in großen Systemen viele Unsicherheiten herrschen, dann brauche ich zumindest im kleinen System einen sicheren Hafen. In der Coronakrise war das zum Beispiel mein soziales Umfeld, das mir Kraft gegeben hat.
Welche Faktoren beeinflussen, wie gut ich eine Krise meistern kann?
Die Traumaforschung zeigt, dass man gut durch eine traumatische Erfahrung oder Krise kommt, wenn man Unterstützung erfährt. Die Isolation war während der Krise für viele Menschen schlimmer als die Regelungen an sich. Enge Beziehungen sind der wichtigste Faktor. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Selbstwirksamkeit. Das bedeutet, dass ich selbst kleine Entscheidungen treffen kann. Das gibt mir das Gefühl, einen Einfluss auf mein Leben zu haben.
Ungewissheit wirkt sich gesamtgesellschaftlich aus. So kehrten etwa laut einer US-Studie während der Coronakrise Männer und Frauen zu traditionellen Rollenbilder zurück, berichtet die Psychologin.
Wenn wir über schwere Zeiten sprechen, ist das Wort Resilienz in aller Munde. Was versteht man darunter?
Die Resilienz hat mittlerweile eine Forschungstradition von über 40 Jahren. Von Resilienz wird streng wissenschaftlich nur gesprochen, wenn eine Krise oder Herausforderung mein Leben und meine normative Entwicklung gefährdet und ich durch diese Schwierigkeiten komme und vielleicht sogar daran wachse.
Kann ich mir Resilienz als Fähigkeit aneignen?
Ja, auf jeden Fall. Im Prinzip geht es darum, Kompetenzen zu stärken. Das können soziale Kompetenzen oder Problemlösungskompetenzen sein. Dann kann ich, wenn eine Krise kommt, darauf zurückgreifen. Insgesamt wissen wir von drei großen Resilienzquellen.
Als Erstes hängt unsere Resilienz von äußeren Ressourcen ab. Darunter verstehen wir Unterstützung durch Familie, Freund:innen, die Gesellschaft oder den Staat. Beispiele für Letzteres wären Zugang zu Bildung oder ein gutes Gesundheitssystem. Zu Beginn der Covid 19-Krise waren die Krankenhäuser überfüllt und nicht alle Patient:innen konnten optimal behandelt werden. Eine solche Situation löst Angst, Stress und Unsicherheit aus, da ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, bei Krankheit oder Verletzung entsprechend behandelt zu werden. Meine Resilienz ist abhängig von den verfügbaren Ressourcen. Die zweite Resilienquelle sind die Fähigkeiten, die ich erworben habe. Wie kann ich Probleme lösen? Wie kann ich mich selbst beruhigen? Welche Prioritäten kann ich setzen? Alle diese Fertigkeiten wirken sich auf meine Resilienz aus.
Die letzte Resilienzquelle entspringt meinem Selbstvertrauen, meiner Selbstliebe und meinem Selbstrespekt. Hier lässt sich mit der Resilienzförderung gut ansetzen.
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„DIE ISOLATION WÄHREND CORONA WAR FÜR VIELE
SCHLIMMER ALS DIE REGELUNGEN AN SICH“
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Haben Sie konkrete Beispiele für die Resilienzförderung?
Bei Kindern üben wir beispielsweise Gefühle zu erkennen und zu benennen. Dann weiß das Kind zum Beispiel, dass es okay ist, sich zu ärgern. Prinzipiell hilft es, positive Emotionen zu stärken und zu lernen, was mich in einer schwierigen Situation aufbaut.
Welche Auswirkungen hat dieses allgemeine Unsicherheitsgefühl in einer Gesellschaft?
Eine Gender-Studie aus den USA hat 2020/2021 etwa ergeben, dass Männer und Frauen durch die Unsicherheit während der Coronakrise wieder zu traditionellen Rollenbildern zurückgekehrt sind. Das heißt, dass die Frau zu Hause geblieben und die Care-Arbeit gemacht hat und der Mann erwerbstätig war. Diese Dynamik kann bedenklich werden, weil wir bei dem bleiben, was wir kennen. Die Angst ist selten ein Türöffner für etwas Neues.
In westlichen Industrieländern herrscht Silvia Exenberger zufolge ein großes Sicherheitsbedürfnis und der Wunsch, die Dinge zu kontrollieren. Andere Kulturen denken hingegen zyklisch und leben nach dem Grundsatz, dass das einzig Beständige das Unbeständige ist.
Es gibt Menschen, die in ihren Berufen tagtäglich mit Ungewissheit umgehen müssen. Der Krankenpfleger bei seinen todkranken Patientinnen oder die Soldatin im Einsatz. Wie meistern diese Menschen unsichere und stressige Situationen?
Wenn man in eine Extremsituation gerät, dann setzt automatisch der „Fight, Flight, Freeze“-Modus ein. Wenn ich weiß, dass ich häufig extremen Angst- oder Stresssituationen ausgesetzt bin, hilft es, mich darauf vorzubereiten, indem ich mögliche Szenarien oder Abläufe durchdenke. Soldat:innen haben Notfallpläne und Handlungsabläufe, die vorgeben, was im Fall X oder Y zu tun ist. In der Palliativmedizin kann es helfen, sich mit anderen Pfleger:innen auszutauschen und in Supervision zu gehen. Im Englischen sagt man dazu „disclosure“ (Deutsch: Offenlegung).
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„LAUT POSITIVER PSYCHOLOGIE WIRD
DER MENSCH VON DER ZUKUNFT ANGEZOGEN“
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Welche Erkenntnisse über Resilienz haben Sie während Ihrer Forschungen im Ausland gewonnen?
Plakativ gesagt pflegen wir in westlichen Industrieländern ein lineares Denken. Die Grundeinstellung als Mensch ist, dass mein Selbst wichtig ist. Dazu kommt noch ein großes Sicherheitsbedürfnis, der Wunsch, die Dinge zu kontrollieren, und der Glaube an die gerechte Welt. Andere Kulturen denken eher zyklisch und leben nach dem Grundsatz „Das einzig Beständige ist das Unbeständige“. Vielleicht wird sich das bei uns in Zukunft auch ändern, jetzt, da wir mit so vielen Krisen konfrontiert sind. Denn wenn die Zukunft nicht vorhersehbar ist, dann muss ich viel mehr im Jetzt leben.
Bedeutet das, dass wir mit den Ereignissen einfach „mitgehen“ sollten, anstatt dagegen „anzukämpfen“?
Für viele Menschen, die in den westlichen Industrieländern leben, ist das aufgrund des Kontrollbedürfnisses sehr schwierig. Forschungen in Indien haben uns gezeigt, dass dort der Blick vermehrt in die Zukunft gerichtet wird. Hier sind wir sehr vergangenheitsorientiert, während beispielsweise unsere Forschungsergebnisse zeigten, dass Menschen in Indien sich stark auf das Weitergehen und auf die Hoffnung konzentrieren. Laut der Positiven Psychologie wird der Mensch von der Zukunft angezogen, anstelle bloß von der Vergangenheit getrieben zu werden. Und das soll gestärkt werden.
Nadja Riahi ist freie Journalistin und Moderatorin. Sie schreibt über gesellschaftspolitische Fragestellungen, soziale Ungerechtigkeiten und die Arbeitswelt.
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