
Verschwundene Einbürgerungs-Forderungen: Unabhängige Expert*innen kritisieren Leerstellen im Integrationsbericht
Im vergangenen Jahr hat der Integrations-Expert*innenrat der Bundesregierung die viel zu niedrige Einbürgerungsrate in Österreich kritisiert und Verbesserungen beim Zugang zur Staatsbürgerschaft gefordert. Im diesjährigen Integrationsbericht, beauftragt von Bundesministerin Susanne Raab, findet sich diese Forderung plötzlich nicht mehr. Was sagen unabhängige Expert*innen dazu?
Obwohl die Frage des Zugangs zur Staatsbürgerschaft durch die stetig steigende Zahl an Betroffenen an Dringlichkeit gewonnen hat, ist das Einbürgerungskapitel im diesjährigen Integrationsbericht drastisch geschrumpft. SOS Mitmensch hat bei unabhängigen Expert*innen nachgefragt, wie sie diese Leerstellen beurteilen. Ihre Rückmeldungen weisen auf das Potential sowie die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Einbürgerungsgesetzgebung in Österreich hin.
Kohlenberger: „Staatsbürgerschaft und Einbürgerung sind die großen Gegenwarts- und Zukunftsthemen“
Die Migrationsforscherin und Integrationsexpertin Dr. Judith Kohlenberger stellt der weitgehenden Ausklammerung der Einbürgerungsthematik aus dem diesjährigen Integrationsbericht, die enorme Bedeutung des Themas aus integrationspolitischer Sicht gegenüber: „Einbürgerung ist eine Frage der formal-rechtlichen, aber auch der emotionalen Zugehörigkeit. Aus Studien wissen wir, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach etwa fünf bis sechs Jahren Aufenthalt als Katalysator für Integration wirken kann. Es zeigen sich positive Effekte auf die Erwerbstätigkeit und Löhne, aber auch die soziale Inklusion von Migrant*innen. Davon profitieren in letzter Konsequenz alle in Österreich lebenden Menschen, denn das stärkt die soziale Sicherheit und das Miteinander. Somit sind Staatsbürgerschaft und Einbürgerung die großen Gegenwarts- und Zukunftsthemen unseres Landes und sollten von der Politik prioritär behandelt werden. Politische ökonomische und kulturelle Teilhabe von Menschen mit Migrationsbiographie macht Österreich stärker, gerechter und sicherer.“
Rosenberger: „Offene politische Diskussion mehr als überfällig“
Aus Sicht der an der Universität Wien tätigen Politikwissenschafterin Univ.-Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger wird der diesjährige Integrationsbericht der integrationspolitischen Bedeutung der Einbürgerungsthematik nicht gerecht: „Angesichts der steigenden zugewanderten Bevölkerung zählen das Statistische Jahrbuch Migration & Integration und der Integrationsbericht 2023 eine Reihe von politischen Handlungsfeldern auf. An erster Stelle nennen die Berichte Sprache und Bildung, gefolgt von den Bereichen Arbeit und Beruf, Soziales und Gesundheit, Sicherheit, Wohnen und räumlicher Kontext. Zum Thema Einbürgerungen wird eine statistische Darstellung zu den Herkünften der Personen geliefert, ergänzt um den Hinweis, dass die Einbürgerungsrate in Österreich im europäischen Vergleich eine der niedrigsten sei. Nicht erwähnt wird, dass mit einer niedrigen Einbürgerungsrate, die in erster Linie auf die rechtlichen Bestimmungen zurückzuführen ist, auch die politische Integration der Zugewanderten defizitär bleibt. Einbürgerung gilt den Autor*innen dieser Berichte nicht als Handlungsfeld, um etwa die wirtschaftliche oder soziale Integrationsdimension zu stärken, sondern sie wird lediglich als interessantes statistisches Phänomen präsentiert. Diese Bescheidenheit mag überraschen, da etwa in Deutschland aktuell eine intensive Debatte zu erleichterten Bestimmungen ebenso wie zur Mehrstaatigkeit geführt wird. Eine offene politische Diskussion über die Vor- und Nachteile, die Chancen und Risiken wäre angesichts des großen Bevölkerungssegments, das von der politischen Teilhabe ausgegrenzt ist, auch hierzulande mehr als überfällig. Der gesetzlich vorgesehene Expertenrat für Integration sollte meiner Meinung nach, im Interesse der Integration und Teilhabe der gesamten Bevölkerung, dazu einen seriösen Beitrag leisten. Auf eine Reihe von wissenschaftlichen Studien könnte dabei zurückgegriffen werden.“
Wächter: „Restriktive Einbürgerungspolitik aus jugendsoziologischer Sicht bedenklich“
Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Thema Einbürgerung wurde von der Leiterin des Expert*innenrates der Bundesregierung mit einer anderen Schwerpunktsetzung des diesjährigen Integrationsberichtes erklärt – nämlich jener auf Jugendliche. Doch gerade für Jugendliche ist die Relevanz des Themas Einbürgerung enorm hoch, wie die an der Universität Graz tätige Assoz. Prof. Dr. Natalia Wächter bestätigt: "Die restriktive Einbürgerungspolitik ist auch aus jugendsoziologischer Sichtweise bedenklich: Die hier lebenden Jugendlichen verstehen sich in der Regel als zu Österreich zugehörig und würden sich gerne mit Österreich identifizieren, wenn man es zulässt. Das betrifft insbesondere jene, die in Österreich aufgewachsen sind oder in Österreich geboren wurden, aber keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Zur Identifikation mit Österreich wäre aber förderlich, sie als österreichische Staatsbürger*innen anzuerkennen, womit auch Möglichkeiten zur Beteiligung in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen verknüpft sind. Beteiligungs- und Identifikationsmöglichkeiten sind notwendig für die Integration in die österreichische Gesellschaft - wie sonst soll "Integration" erfolgen? Zudem ist es demokratiepolitisch bedenklich, wenn eine große Zahl in Österreich lebender Menschen in ihren politischen Partizipationsmöglichkeiten beschränkt ist und keine politischen Vertreter*innen wählen darf."
Bauböck: „Integration von Jugendlichen ohne Zugang zur Staatsbürgerschaft?“
Auch der am Europäischen Hochschulinstitut Florenz tätige Migrationsforscher und Vorsitzende des Global Citizenship Observatories Univ.-Prof. Dr. Rainer Bauböck betont die Relevanz der Einbürgerung für Jugendliche und kritisiert deren Nichtberücksichtigung im heurigen Integrationsbericht: „Der Integrationsbericht 2023 des Expertenrats der Bundesregierung hat das Schwerpunktthema Jugendliche. Während etwa den Bildungskarrieren oder der Jugendkriminalität breite Aufmerksamkeit geschenkt wird, bleibt ausgeklammert, dass Zugang zur Staatsbürgerschaft und politischen Rechten ein wesentlicher Aspekt der Integration jener ist, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind oder hier geboren wurden. Der Integrationsbericht 2022 hatte noch Maßnahmen angeregt, um die im internationalen Vergleich extrem niedrige Einbürgerungsrate zu erhöhen und betonte, dass dies vor allem für im Inland geborene und aufgewachsene Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft wichtig sei, weil ihr Lebensmittelpunkt in Österreich liegt. Der heurige Bericht stellt zwar fest, dass von den Angehörigen der 2. Generation (dh im Inland Geborene mit zwei im Ausland geborenen Elternteilen) 39% (244.809 Personen) nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Was gegen dieses gravierende Integrationsdefizit von Jugendlichen zu tun ist, dazu verliert der Bericht jedoch kein Wort. In Deutschland erhalten seit 2000 im Inland geborene Kinder zweier nichtdeutscher Eltern automatisch die Staatsbürgerschaft per Geburt, wenn ein Elternteil 8 Jahre regulären Aufenthalt hat. Die jetzige Bundesregierung hat sich im Sommer auf einen Gesetzesvorschlag geeinigt, nach dem diese Frist auf 5 Jahre verkürzt wird und für alle Kinder der Zwang, sich später für eine ihrer beiden Staatsbürgerschaften zu entscheiden, wegfällt. In Österreich gibt es bis heute kein Recht auf Staatsbürgerschaft per Geburt im Inland, nur ein Einbürgerungsverfahren nach 6 Jahren Aufenthalt, bei dem nicht nur die bisherige Staatsbürgerschaft zurückgelegt werden muss. Zusätzlich schließen Bedingungen wie ein ausreichender Lebensunterhalt der Eltern oder das Fehlen von Jugendstrafen (einschließlich mehrfacher Verwaltungsstrafen) in Österreich beheimatete Kinder von der Staatsbürgerschaft aus. Namhafte Jurist*innen sind der Ansicht, dass dies dem Vorrang des Kindeswohls widerspricht, zu dem sich auch Österreich verfassungsrechtlich verpflichtet hat. Dies nicht als Hindernis für die Integration von Jugendlichen zu bezeichnen, ist ein gravierendes Manko des heurigen Integrationsberichts.“
Dringender Handlungsbedarf!
SOS Mitmensch sieht dringenden Handlungsbedarf: Nirgendwo anders in Europa ist es schwerer sich einbürgern zu lassen als in Österreich. Ein immer größer werdender Teil der österreichischen Bevölkerung bleibt von der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgegrenzt. Fast jede fünfte Person im Wahlalter ist dadurch inzwischen vom Wahlrecht ausgeschlossen, viele davon leben schon jahrelang in Österreich oder sind sogar hier geboren. Das sollte nicht nur aus demokratiepolitischer, sondern auch aus integrationspolitischer Sicht alle Alarmglocken läuten lassen.
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