„Das Zeitungen-Verkaufen ist meine Therapie“
Ein anstrengender Beruf, der gute Organisation, Mut und Ausdauer erfordert, oder eine nervige Erscheinung auf der Straße, die aufdringlich an das schlechte Gewissen appelliert? Der Job der Straßenzeitungsverkäufer:innen sorgt für Kontroversen. Anlässlich des 20-jährigen MO-Jubiläums haben wir einen Kolporteur begleitet.
Text: Sonja Kittel.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
Jetzt mit einem MO-Solidaritäts-Abo unterstützen!
Leopold Gratzl ist 47 Jahre alt und ein Verkaufstalent. Jeden Tag verlässt er spätestens um zehn Uhr morgens sein Haus in Niederösterreich und pendelt mit dem Zug nach Wien. Dort, rund um die Mariahilfer Straße im siebten Bezirk, ist sein Arbeitsplatz. Hier hat er seine Stammkund:innen, hier ist er unterwegs, sieben bis acht Stunden jeden Tag. Er lässt seinen Charme spielen, wendet seine lang erprobten Verkaufsstrategien an, ist freundlich, offen und niemals aufdringlich. Gratzl wurde 1976 im „Göttlichen Heiland“ geboren. Als eines von sechs Kindern. Seine Mutter war ein sehr wichtiger Mensch in seinem Leben. Mit drei Jahren wäre er fast gestorben, an hämolytischer Anämie, Blutzerfall. Was genau der Grund war, weiß er heute nicht mehr, aber er überstand es, denn aufgeben ist nicht seine Sache. Gratzl mag seine Arbeit, er ist gerne unter Leuten, ein offener Typ, der das Positive im Fokus behält.
Der siebte Bezirk ist Leopold Gratzls Arbeitsplatz. Hier verkauft er jeden Tag das MO-Magazin.
Das ist die eine Version seiner Geschichte, aber es gibt auch eine andere. Leopold Gratzl ist 47 Jahre alt und Notstandshilfeempfänger. Sein Vater hatte zahlreiche Schlaganfälle und seine Mutter kränkte sich, weil sie Angst davor hatte, ohne ihn zu leben. Eines Tages fiel sie einfach tot um. Vor 15 Jahren starb auch der Vater nach jahrelanger Bettlägrigkeit. Es gab kein Testament und das Erbe war nicht geregelt, was die Beziehung zu seinen fünf Geschwistern trübte. Heute lebt er mit seinem ältesten Bruder gemeinsam im Elternhaus in Niederösterreich. Nicht mit allen Nachbarn haben sie ein gutes Verhältnis. Manche seien „keine guten Menschen“, würden ihn des Diebstahls bezichtigen oder schlecht über ihn reden, sagt er. Seit sieben Jahren verkauft Leopold Gratzl die Straßenzeitung MO und verdient sich so ein bisschen was dazu. Wenn er auf Wiens Straßen unterwegs ist, trifft er auf Leute, die die eine oder die andere Geschichte in ihm sehen und ihm dementsprechend begegnen.
Es ist 13 Uhr an einem Tag Mitte Oktober. Leopold Gratzl sitzt gerade im Büro von SOS Mitmensch, wo er beim Leiter des Kolportage-Projekts, Bernhard Spindler, seine Zeitungen für den Tag kauft. Ein Heft bekommt er für 1,50 Euro, für das Doppelte kann er es später verkaufen und so die Hälfte des Verkaufspreises für sich behalten.
_______
Mit drei Jahren wäre er fast gestorben. Aber er
überstand es, denn aufgeben ist nicht seine Sache.
_______
Kolportageprojekt als Starthilfe
Es gibt noch fünfzig weitere Kolporteur:innen, die das MO selbstständig auf Österreichs Straßen verkaufen, weil sie vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind oder dort keine Chance bekommen. Seit 2010 betreibt SOS Mitmensch das Kolportageprojekt, um diesen Menschen eine Verdienstmöglichkeit zu eröffnen und einen Beitrag zur österreichischen Medienvielfalt zu leisten.
Viele der Kolporteur:innen kommen aus Südosteuropa. So zum Beispiel Valerica G., 66 Jahre alt und seit fünf Jahren MO-Kolporteur. Er kommt aus dem kleinen Dorf Bughea de Sus in den rumänischen Karpaten, das er bis 2019 nie verlassen hatte. Er arbeitete bei der Straßenmeisterei, bis er den Job aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Valerica G. hielt sich mit diversen Mini-Jobs über Wasser, aber irgendwann reichte das nicht mehr und die rumänische Sozialhilfe von umgerechnet dreißig Euro pro Monat war auch nicht genug zum Überleben. Ein Bekannter überredete Valerica G. dazu, mit ihm nach Wien zu kommen und dort das MO-Magazin zu verkaufen. Seitdem kommt er immer wieder einige Monate zurück und verdient sich ein paar Euro dazu. Seine Erzählung zeugt im Kleinen von den fehlenden Auffangnetzen in Rumänien sowie dem Mangel an Perspektiven für einen großen Teil der Bevölkerung in Rumänien und anderen europäischen Staaten. Es sind die Folgen eines starken sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichts innerhalb Europas. Genug Stoff für eine eigene Geschichte.
Valerica G. verdient sich mit der Straßenkolportage ein paar Euro dazu. Früher arbeitete er bei der Straßenmeisterei, aus gesundheitlichen Gründen musste er den Job aufgeben.
„Wollen’s eine Zeitung kaufen?“
Aber wieder zurück zu Leopold Gratzl: Nachdem er sich mit Projektleiter Spindler über alltägliche Probleme ausgetauscht hat – die Zugverbindung nach St. Pölten, den Klimabonus, den Bruder, der seit zwei Tagen nicht nachhause gekommen ist, mit ihm der zweijährige Hund, der fehlt, weil er sonst bei ihm im Bett schläft – startet Leopold Gratzl seinen Rundgang. Heute hat er Glück, weil es der erste warme Tag seit Langem ist. Die Sonne lockt die Leute in die Gastgärten und auf die Einkaufsstraßen. Gratzl hat seine Stammlokale, wo die Besitzer:innen ihn kennen und ihn verkaufen lassen. Er geht von Tisch zu Tisch: „Wollen'S eine Zeitung für drei Euro kaufen. Die Hälfte geht an den Verein, die andere ist für mich. Es ist wirklich ein gutes Magazin.“ In einem japanischen Restaurant entdeckt er eine Stammkundin. Sie kauft ihm auch gleich ein Heft ab. Sie kaufe immer nur bei Leopold, sagt sie. Weil er freundlich sei und sie sich schon lange kennen.
_______
Mit dem MO-Kolportageprojekt werden Verdienstmöglichkeiten
eröffnet und ein Beitrag zur Medienvielfalt geleistet.
_______
Weiter geht es ins nächste Lokal. Der Chef reagiert etwas genervt auf Gratzls Ansprache, lässt ihn aber ziehen. Zwei Tourist:innen sitzen an einem Tisch. Der Mann wehrt gleich ab, die Frau will aber doch ein Heft haben. Sie hat die drei Euro nicht passend, aber Gratzl lässt sich den Schein von der Kellnerin wechseln. Kurz kommt die Sorge bei der Frau auf, dass er sie über den Tisch ziehen will, aber der Kolporteur ist korrekt und legt Wert darauf, genau rauszugeben. Bei denen, die heute keine Zeitung kaufen, gibt es die, die freundlich Nein sagen: „Sorry, keine Zeit“, „Die Zeitung habe ich schon“, „Habe heute schon einen Augustin gekauft“, „Danke, heute nicht“. Sie begegnen Gratzl, dem Verkaufstalent, auf Augenhöhe. Schlimmer sind die, die genervt Nein sagen, von oben herab, mit abfälligem Schnauben und Augenrollen. Am schlimmsten sind die, die ihn einfach ignorieren, stur geradeaus schauen und so tun, als hörten sie ihn nicht, als sähen sie ihn nicht, Gratzl, den Notstandshilfeempfänger.
Im SOS Mitmensch-Büro tauscht sich Leopold Gratzl mit Projektleiter Bernhard Spindler über Neuigkeiten aus und kauft neue Hefte.
Ob ihn das nicht stört? „Nein, das ist mir egal. Das gehört auch dazu. Wie bei jeder Arbeit gibt es gute und schlechte Seiten.“ Gratzl schaut beim Trafikanten vorbei, mit dem er immer gerne „ein Plauscherl“ hält, genau wie mit dem Besitzer des Honiggeschäfts. Dieser kenne Leopold schon seit sicher sieben Jahren. Er kaufe gerne bei ihm das Heft, weil er ein offener und freundlicher Verkäufer sei. Auf der Straße entdeckt Leopold Gratzl noch einen weiteren Stammkunden. Der bleibt auch gleich stehen und kauft ein Heft. Er liest es gerne. Nimmt auch mal mehrere Ausgaben, um sie an Freund:innen zu verschenken. Dass Leopolds Geschichte in die Zeitung kommt, findet er gut.
_______
"Ich muss immer unter die Leute. Daheim ist nichts.
Da hab' ich vier Wände und da redet niemand."
_______
Der erste Teil des Arbeitstages ist geschafft. Fünf Zeitungen hat er verkauft. Gratzl wird sich jetzt etwas zu essen besorgen. Vielleicht beim Peter am Würstelstand. Seine Zeitungen und Habseligkeiten kann er während der Pause unterstellen, zum Beispiel beim Eissalon. Die Leute kennen ihn und er die Leute. „Das Zeitungen-Verkaufen ist meine Therapie“, sagt Gratzl, „weil man ins Reden kommt. Ich muss immer unter die Leute. Daheim ist nichts. Da hab' ich vier Wände und da redet niemand. Die Freunde hier, die warten alle Tage auf mich.“
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo