DEMAGOGIE À LA CARTE
Die Asylanträge sind letztes Jahr in Rekordhöhe gestiegen. Von politischer Seite wird Stimmung gemacht und an Grundrechten gerüttelt. Doch vieles sind Scheindebatten. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher, Illustration: P.M. Hoffmann
Populismus: Bundeskanzler Nehammer will mit Serbiens Präsident Vucic und
Ungarns Ministerpräsident Orbán den „Asyltourismus“ stoppen.
Mitte November 2022 legen Österreichs Bundekanzler Karl Nehammer, der serbische Präsident Aleksandar Vučić sowie der ungarische Ministerpräsidenten Viktor Orbán die Hände für ein Pressefoto zusammen. Ein Team, das die verstärkte Zusammenarbeit in Sachen Migration und gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität besiegelt. Karl Nehammer spricht davon, dass das Asylsystem der EU gescheitert sei und „Asyl à la Carte“ beendet werden müsse. In den vorangegangenen Wochen waren die Asylanträge in Österreich in die Höhe geschossen.
Bundeskanzler Nehammer ist nicht der Erste, der sich dieser Rhetorik bedient. Doch von „Asyl à la Carte“ zu sprechen, hält die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien für zynisch: „Flucht ist inhärent, dass sie unfreiwillig passiert.“ Dass viele Menschen einen Antrag in Österreich stellten, sei auch der geografischen Lage geschuldet und der Tatsache, dass andere Länder die Menschen durchließen.
J. Kohlenberger: Flucht passiert unfreiwillig.
Rekordzahlen
Einen Tag nach den niederösterreichischen Landtagswahlen veröffentlicht das Innenministerium die vorläufigen Statistiken für das vergangene Jahr. Zwei Rekorde wurden erreicht: Noch nie haben in den vergangenen Dekaden so viele Menschen Asylanträge gestellt, in Zahlen 108.781. Mehr als etwa im Jahr 2015 mit 88.340 Anträgen.
Gleichzeitig wurden aber auch noch nie so viele Verfahren – bisheriger Stand: 40.000 – wieder eingestellt, weil die Menschen Österreich bereits verlassen hatten. Lukas Gahleitner-Gertz, Sprecher und Asylrechtsexperte der asylkoordination, rechnet mit 60.000 bis 70.000 eingestellten Verfahren, weil es eine Verzögerung von etwa zwei bis drei Monaten bei den Einstellungen gebe. Damit wäre die Zahl der Asylantragssteller*innen, die hierzulande geblieben sind, nur moderat höher als die rund 40.000 Anträge im Jahr 2021.
Auf Durchreise
Unter den Herkunftsländern liegt nach Afghanistan Indien, gefolgt von Syrien, Tunesien und Marokko. Von den 19.504 Inder*innen, die einen Antrag stellten, blieben nur rund 400 in der Grundversorgung. Für die meisten ist Österreich ein Zwischenstopp, wenn sie aufgehalten werden. Ein Rückgang der Asylanträge wird erwartet, da es seit Anfang des Jahres wieder eine Visumspflicht in Serbien gibt. Insgesamt wurde im vergangenen Jahr in 13.371 Fällen Asyl gewährt. Knapp 5.500 Verfahren endeten mit subsidiärem Schutz, rund 2.400 mit einem humanitären Aufenthaltstitel. Rund ein Viertel der Asylanträge wurde abgelehnt, wobei hier auch jene mit subsidiärem Schutz inkludiert sind.
Versorgungsfrage
Ein Anstieg ist bei der Grundversorgung zu sehen: 93.000 Menschen waren es 2022, im Jahr davor 30.000. Allerdings waren davon rund 56.000 Geflüchtete aus der Ukraine, die zu einem Großteil in privaten Unterkünften untergekommen sind.
Die Grundversorgung – und mit ihr v. a. die Frage der Unterkünfte – ist ein Dauerbrenner in der öffentlichen Debatte. Die Bundesländer – mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland – erfüllten ihre Aufnahmequote nicht. Es gab und gibt zu wenig Quartiere. Im Herbst wurden Zelte aufgestellt. Eine „Asylkrise“ konnte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser damals nicht erkennen. Nur eine „Unterbringungskrise“, und die sei dem Kalkül des Innenministeriums geschuldet. Moser: Die Bilder erweck- ten „den Eindruck einer Asylkrise, die es nicht gibt“.
Ideenreich
In der Politik wird indes nicht an Vorschlägen gespart, wie mit der vermeintlichen Asylkrise umzugehen sei. Einen Zaun, eine Mauer um Europa, fordert Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Eine „Festung Österreich“ bewirbt die FPÖ im NÖ-Wahlkampf. Sie punktete damit und gewann zehn Prozentpunkte hinzu. Einer ATV-Umfrage von November 2022 zufolge sehen Menschen österreichweit die größte Kompetenz beim Thema Zuwanderung bei der FPÖ. Aber nicht nur ihre Wähler*innen, sondern auch jede*r fünfte rote und türkise Wähler*in. „Die FPÖ bietet einfache Lösungen für komplexe Probleme, ohne beweisen zu müssen, dass sie es besser kann“, kommentiert das asylkoordination-Sprecher Gahleitner-Gertz. Und wenn doch, sehe es anders aus: Unter keinem Innenminister seit 2015 bekamen etwa so viele Afghan*innen einen Aufenthaltstitel wie unter Herbert Kickl. 7.400 waren es in der Kickl-Periode, unter dem aktuellen Innenminister Gerhard Karner waren es im Vorjahr nur mehr die Hälfte.
L. Gahleitner-Gertz: kritisiert einfache Lösungen.
Rütteln an Grundrechten
ÖVP-Klubchef August Wöginger ließ im November 2022 aufhorchen, als er sich eine Überarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wünschte. Innenminister Karner zieht im Jänner nach und fordert eine neue EU-Zurückweisungsrichtlinie, um die Zahl der Asylanträge zu senken. Eine Richtlinie, die erlaube, Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten ohne Einzelfallprüfung zurückzuweisen. EU-Rechtsexperte Walter Obwexer stellt im „Kurier“ klar, dass dies gar nicht möglich sei. Pauschale Abweisungen würden das Recht auf einen Asylantrag untergraben.
Der Völkerrechtler Ralph Janik schreibt im „Standard“ zum Abänderungswunsch der EMRK: „Wer aus der Menschenrechtskonvention austreten möchte, würde in letzter Konsequenz einen EU-Austritt in Kauf nehmen.“ Die EMRK schränkt tatsächlich den staatlichen Spielraum bei Abschiebungen ein, da diese nicht zu einer Verletzung des Verbots von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung führen dürfen. Ähnliches ergibt sich aber auch aus anderen Abkommen: der Antifolterkonvention, dem UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der EU-Grundrechtecharta. In der Praxis scheitern viele Rückführungen an fehlenden Übereinkommen bzw. mangelnder Kooperation der Herkunftsländer.
Politisches Spiel
Die Abgrenzung von Migrant*innen, von „den Fremden“, lässt sich in verschiedenen Perioden der Geschichte beobachten, meint der Historiker Philipp Ther, der 2017 das Buch „Die Außenseiter – Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“ publizierte. „Migration als Wahlkampfthema, so wie wir es heute kennen, ist in Österreich seit dem sogenannten Ausländervolksbegehren 1993 präsent“, beschreibt er. Warum wird mit dem Thema politisiert? „Es geht um eine Gruppe Menschen, die nicht stimmberechtigt ist“, sagt Lukas Gahleitner-Gertz. Das Thema eigne sich als Sündenbockpolitik. „Natürlich haben nicht alle Menschen automatisch Recht auf Asylgewährung, aber jede:r hat das Recht auf ein faires Verfahren und eine menschenwürdige Unterbringung.“ Menschenrechtsinstrumente, wie die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention, sind nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieges entstanden. „Bei den Menschen verblasst aber der Eindruck, warum diese fundamentalen Rechte, die uns alle schützen, so wichtig sind“, meint der Asylrechtsexperte, „es wird daran gerüttelt, weil wir sie gerade selbst nicht in Anspruch nehmen müssen“.
Zukunftswege
Dass es Handlungsbedarf gibt, sind sich alle einig. Auf EU-Ebene wünscht sich Migrationsexpertin Judith Kohlenberger ein gemeinsames System, wie es in Ansätzen bereits mit der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) vorangetrieben wird. Faire, schnelle, vereinheitlichte Asylverfahren auf EU- Boden mit einer Verteilungsquote bei positivem Ausgang. Das würde die unterschiedlichen Anerkennungsquoten in den EU-Mitgliedsländern angleichen sowie den derzeitigen Versuch der Nationalstaaten, sich in den Aufnahmebedingungen zu unterbieten, unterbinden. Weiters brauche es Resettlement-Programme. Die Expert*innen-Kommission für Fluchtfolgenforschung, die von der deutschen Bundesregierung eingesetzt wurde, schlägt eine jährliche Resettlement-Quote von 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung für jedes EU-Land vor. In Österreich wären dies knapp 5000 Personen pro Jahr. „Das ist wenig, aber ein Start“, sagt Kohlenberger.
Optionen schaffen
Wenn man unterbinden wolle, dass auf die Asylschiene auch Menschen kommen, die eigentlich der Arbeitsmigration zuzurechnen sind, müsse man Wege öffnen und sie anders regulieren. „Die Rot-Weiß-Rot-Karte wurde zwar reformiert, aber für Personen im niedrig qualifizierten Bereich ist sie immer noch fast unmöglich zu bekommen“, berichtet Kohlenberger. Nur durch Diversifizierung der Einreisemöglichkeiten könnten Migrationsströme sich besser steuern lassen. „Die Rigidität, die wir momentan haben, macht uns unflexibel“, meint die Forscherin.
Derzeit mangelt es in Österreich branchenübergreifend an Arbeitskräften. Der Historiker und Leiter des Forschungszentrum für die Geschichte von Transformationen, Philipp Ther, wundert sich, dass es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen ist, ein positiveres Bild von Migration zu zeichnen. „Man muss Argumentationsmodi finden, nicht nur aus humanitärem Interesse, sondern auch im Interesse unseres Wohlstands“, sagt er. Gerade jetzt sei dies bei dem Arbeitskräftemangel eine Chance. Immerhin ist auch der Großteil der Asylantragssteller*innen jung. Im Vorjahr waren knappe 70 Prozent zwischen 18 und 35 Jahren.
Pflaster-Politik
Bisher wird laut Kohlenberger nur auf kurzfristige Lösungen gesetzt: „Man hat jahrelang verabsäumt, nachhaltige Lösungen zu finden“. Anfang Februar gab sie gemeinsam mit Othmar Karas das Buch „So schaffen wir das – Wie wir das Thema Asyl & Migration dem linken und rechten Rand abnehmen und die Krise überwinden“ heraus. In der Einleitung schreibt Karas: „Verantwortungsvolle Politik muss nach gemeinsamen europäischen Lösungen suchen. Wenn dies nicht erfolgreich gelingt, sind nicht die asylsuchenden Menschen schuld, sondern der mangelnde politische Wille der in Verantwortung stehenden Politiker.“ Ob das Buch bereits beim Herrenteam aus Österreich, Ungarn und Serbien eingelangt ist, ist nicht bekannt.
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