Ghousuddin Mir: „Auch Geflüchtete und ihre Kinder sind die Zukunft dieses Landes“
Ghousuddin Mir war 33 Jahre alt als er 1994 mit seiner Frau und seinen fünf Kindern aus Afghanistan flüchtete. Der Zufall brachte sie nach Österreich. Ghousuddins Erfahrungen nach der Flucht motivierten ihn, selbst einen Verein zu gründen, der Geflüchtete beim Ankommen unterstützt.
Redaktion: Sonja Kittel, Foto: Denise Kopyciok
Arbeit mit jungen Geflüchteten
„Mein Name ist Ghousuddin Mir. Ich bin 62 Jahre alt und arbeite als muttersprachlicher Betreuer in einer WG für geflüchtete Jugendliche in Wien. Ich musste selbst mit meiner Familie flüchten, als die Mujaheddin in Afghanistan einmarschierten. Ich bin in Kabul geboren und habe dort meine gesamte Schullaufbahn abgeschlossen. Anschließend studierte ich Logistik an der Militärakademie.
Schicksalhaftes Treffen
Dass ich nach Österreich gekommen bin, ist einem Zufall geschuldet. Ich war als Major für die Grenzkontrolle am Flughafen in Kabul zuständig, als dort eines Tages der österreichische Professor und Menschenrechtsexperte Felix Ermacora ankam. Wir unterhielten uns und als guter Gastgeber beantwortete ich ihm alle Fragen. Er war in Afghanistan, um dort die Menschenrechtssituation zu beurteilen. Ermacora gab mir seine Visitenkarte und sagte, wenn ich einmal etwas bräuchte, dann könne ich mit ihm rechnen.
„Der Geheimdienst suchte mich“
1994 floh ich mit meiner Frau und unseren fünf Kindern aufgrund des Bürgerkriegs nach Pakistan. Dort habe ich gesehen, dass viele Frauen, darunter auch meine eigene, von den pakistanischen Behörden unter Druck gesetzt wurden. Beamte bedrohten und misshandelten sie teilweise, bevor sie ihre Dokumente bekamen. Ich und ein Freund haben daher eine große Demonstration organisiert. Wir haben ein Plakat geschrieben auf dem stand: „Ihr seid Muslime, warum tut ihr das mit Frauen?“ Ich war dann in Gefahr in Pakistan. Der Geheimdienst suchte mich und ich erinnerte mich wieder an die Visitenkarte.
Hilfe aus Österreich
Ich habe Professor Ermacora ein Fax geschrieben – damals machte man das noch so – und berichtete, dass ich in Peschawar sei und in einer Notsituation. Drei Tage später war er da und bot seine Hilfe an. Er schickte mich zur österreichischen Botschaft und mit seiner Unterstützung bekam ich ein Visum. Erst wollte ich es nicht annehmen, weil es nur für mich galt und nicht für meine Familie, aber der Professor überzeugte mich, dass mein Leben hier in Gefahr war und dass ich als erster gehen müsse, um meine Frau und meine Kinder nachzuholen.
„Das hat mich fertig gemacht“
Ich habe einen Tag nach meiner Ankunft in Österreich Asyl bekommen. Die Familienzusammenführung hat dann allerdings fast zwei Jahre gedauert und das hat mich fertig gemacht. Es gab damals keine Deutschkurse für Geflüchtete und auch keine Möglichkeit für eine Ausbildung. Ich arbeitete als Putzmann im Flüchtlingslager und habe mich dann mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Ich musste von Anfang an arbeiten. Später habe ich dann erst verschiedene Ausbildungen gemacht.
„Wir sind für alle da“
Die Dinge, die ich erlebt habe, als wir als Flüchtlinge in dieses Land gekommen sind, wo uns keiner geholfen hat und keine afghanische Community da war, haben mir gezeigt, was ich für andere tun muss. 1996 gründete ich den afghanischen Kulturverein AKIS (Afghanische Kultur Integration Solidarität) der Geflüchtete beim Ankommen in Österreich unterstützt. AKIS ist ein Verein, und das sage ich sehr laut und stolz, bei dem einzig die Kultur eine Rolle spielt, nicht die Religion, die Volksgruppe oder die Sprache. Wir sind für alle da. Wir arbeiten gemeinsam als Menschen für Menschen.
Unterstützung Geflüchteter
Bis heute haben wir über 20.000 Geflüchtete unterstützt. Wir hatten vor Schwarz-Blau auch einen Vertrag mit dem Innenministerium und haben Beratung und Wertekurse für Flüchtlinge angeboten. Wir bekamen eine Förderung für 2.000 Teilnehmer*innen, im Endeffekt waren es über 7.000 und davon die Hälfte Frauen. 2000 gründete ich die Zeitschrift BANU, die afghanische Frauen über ihre Rechte in Österreich aufklärt. Gemeinsam mit Jugend eine Welt und den Salesianern versuchen wir auch Menschen direkt in Afghanistan zu helfen, egal ob mit Lebensmitteln, Bildung oder Sachspenden.
Don Bosco als Inspiration
In Österreich werden afghanische junge Männer oft mit Kriminellen gleichgesetzt. Ich versuche, inspiriert von Don Bosco, Jugendliche direkt auf der Straße anzusprechen. Viele von ihnen haben ihr ganzes Leben im Krieg verbracht. Sie kommen hierher und stehen unter immensem Druck von ihren Familien. Sie sind mit dem letzten Geld geflüchtet und dürfen nicht arbeiten, weil sie jahrelang auf ihren Bescheid warten. Sie sitzen im Lager ohne Perspektive und schauen Nachrichten aus der Heimat. Sie werden depressiv und aggressiv. Das ist ein Teufelskreis, den man durchbrechen muss. Politiker*innen spielen mit den Geflüchteten und nutzen sie für den Wahlkampf aus, egal ob links oder rechts, anstatt richtige Lösungen anzubieten.
„Die Menschen müssen sich mitteilen“
Ich selbst habe drei Söhne und zwei Töchter. Sie arbeiten bei der MA35, der Bank, im AKH, beim Merkur, sind Mütter und Väter. Auch Geflüchtete und ihre Kinder sind die Zukunft dieses Landes. Ich appelliere an die Regierung, an alle Parteien, bitte geben sie Vereinen wie AKIS eine Chance. Seit die FPÖ an der Regierung war, bekommen wir keine Förderung mehr. Wenn wir wenigstens einen Raum zur Verfügung hätten, könnten wir dort Bildung, Sprachkurse und andere Aktivitäten anbieten. Die Menschen müssen raus und sich mitteilen.“
Sie sind vor Krieg und Gewalt geflüchtet und haben in Österreich ein neues Leben begonnen. In der mehrteiligen Porträtreihe „Ältere Menschen und Familien nach der Flucht“ berichten Menschen verschiedener Generationen von altersspezifischen Herausforderungen nach der Flucht und wie sie sich ihr Leben in Österreich aufgebaut haben. Wenn Sie Geflüchtete ehrenamtlich unterstützen wollen, finden Sie hier Infos und Kontakte. Alle bereits veröffentlichten Porträts der aktuellen Reihe sowie unsere Porträtreihen der letzten Jahre sind hier nachzuschauen: www.hierangekommen.at
Jetzt den SOS Mitmensch Newsletter abonnieren
Ermöglichen Sie mit einer Spende unsere weitere Menschenrechtsarbeit