
Stützen der Gesellschaft - Tamador Agha, Klinische Psychologin: „Es gab einen enormen Bedarf an meiner Qualifikation“
Tamador Agha, 47 Jahre alt, musste ohne ihre Kinder aus Syrien flüchten. Sie ist klinische Psychologin und unterstützt Frauen und Mädchen mit Depressionen, Traumata, Autismus und Entwicklungsstörungen im Frauengesundheitszentrum FEM. Demnächst eröffnet sie ihre eigene Praxis. Wäre es nach dem AMS gegangen, würde sie als Reinigungskraft arbeiten. Wie sie es geschafft hat, trotz wenig Unterstützung, ihren Weg zu gehen, erzählt sie hier.
Redaktion: Sonja Kittel, Fotos: Michael Pöltl
Weitere Porträts von Geflüchteten auf: www.hierangekommen.at
„Ich musste ohne meine Kinder gehen“
„Mein Name ist Tamador Agha und ich bin Doktorin der Psychologie. Mein Doktoratsstudium hatte ich bereits in meinem Heimatland Syrien abgeschlossen und dort in meiner eigenen Praxis, „Hoffnung ohne Grenzen“, Menschen behandelt. Ich komme aus einer reichen Familie. Mein Vater war General. Als der Krieg begann, war er in Pension, aber Assads Truppen wollten, dass er in den Dienst zurückkommt. Mein Vater weigerte sich und ging mit einem Touristenvisum in die Türkei. 2010 starb mein Bruder im Krieg. Kurz danach rief mein Vater mich an und sagte mir, dass mein Mann etwas wirklich Schlimmes im Krieg machen würde. Ich ließ mich scheiden und als ich dann aus Aleppo fliehen wollte, haben meine Schwiegermutter und mein Mann unsere Kinder, damals dreieinhalb und sechs Jahre alt, in ein Zimmer eingeschlossen und ich musste ohne sie gehen. Erst elf Jahre später würde ich sie wiedersehen.
„Ich bekam Probleme mit dem IS“
Ich ging zuerst in die Türkei und gründete eine Organisation an der Grenze zu Syrien, nahe des Atma Flüchtlingscamps. Mehr als 85.000 Menschen waren dort. In einem medizinischen Zentrum unterstützten und berieten wir die Menschen. Ich bekam jedoch Probleme mit dem IS, weil ich mich nicht so kleidete, wie sie es vorschrieben. Ich kam sogar ins Gefängnis, aber konnte flüchten. Ich flog nach Istanbul und dann illegal nach Griechenland. Von dort ging es dann über die Balkanroute bis nach Österreich. Ich wollte eigentlich zu meinem Onkel nach Großbritannien, der Chirurg ist, da ich sonst niemanden hatte. Mein Vater, mein Bruder und meine Schwester waren inzwischen gestorben. Ich traf meinen Onkel 2015 in Österreich und suchte hier gleich um Asyl an. Es war wohl so gewollt, dass ich hier bleibe.
Psychologie-Studium wurde nostrifiziert
Am Anfang war es sehr schwierig, weil ich ganz auf mich allein gestellt war. Ich war zuerst in Traiskirchen im Flüchtlingscamp, bekam aber schnell meinen positiven Asylbescheid. Ich habe mich dann beim AMS angemeldet, weil ich arbeiten wollte. Die Dame dort hat meine Unterlagen und Qualifikationen angeschaut und mich dann gefragt, ob ich wirklich glauben würde, dass ich mit einem Kopftuch im Spital arbeiten könnte. Die Möglichkeit, die sie für mich hätte, wäre als Putzfrau zu arbeiten. Ich lernte dann zum Glück eine österreichische Ärztin kennen, die mir erklärte, dass ich das Psychologie-Studium in Österreich nostrifizieren lassen könnte. Das machte ich dann auch und gleichzeitig die Ausbildung zur klinischen Psychologin bei der Österreichischen Akademie für Psychologie. Das war teuer. Um mich erhalten zu können, eröffnete ich mit einer Freundin ein Kleidungsgeschäft im 10. Bezirk. Oft reichte das Geld nicht einmal fürs Essen und während der Ausbildung weinte ich oft, weil ich die Fachsprache anfangs nicht verstand. Doch ich hielt durch.
Während Corona 80 bis 90 Beratungen pro Tag
Nach der klinischen Ausbildung begann ich ein Praktikum bei FEM Süd. Ein Frauengesundheitszentrum in der Klinik Favoriten. Sie übernahmen mich gleich, da ich mit meiner Ausbildung und den Sprachen Arabisch, Englisch und Deutsch sehr gebraucht wurde. Es kam dann Corona und ich übernahm mit einem Kollegen eine Hotline, wo wir 80 bis 90 Beratungen pro Tag durchführten. Ich gründete auch die Organisation „Hoffnung ohne Grenzen“, über die ich Menschen aus unserer Community in allen Belangen Hilfe anbiete, egal ob Ausbildung, Schule, Jugendamt, psychologische Probleme oder alltägliche Themen.
„Nach 11 Jahren durfte ich meine Kinder in die Arme schließen“
Nachdem ich meine Kinder über zehn Jahre nicht mehr sehen oder hören durfte, weil ihr Vater den Kontakt verhindert hatte, rief mich eines Tages mein Sohn an. Er sagte: „Mama, wir sitzen auf der Straße, wir haben niemanden. Wir wollen zu dir kommen.“ Über die Handykamera konnten wir uns das erste Mal wieder sehen und haben uns beide kaum erkannt. Ich setzte dann alle Hebel in Bewegung, um meine Kinder zu mir zu holen. Eineinhalb Jahre versuchte ich über Caritas, Volkshilfe und Rotes Kreuz meine Kinder zu holen, aber nichts funktionierte. Am Ende half mir die Obfrau der SPÖ im 10. Bezirk. Sie stellte einen Kontakt zum Innenministerium her und die setzten sich für mich ein. Sechs Versuche, meine Kinder aus der Türkei zu holen, scheiterten an der Grenze. Ich hatte mittlerweile schon die österreichische Staatsbürgerschaft, dennoch wollte man mich nicht einreisen lassen. Am Ende kämpften fünf Personen des österreichischen Konsulats in Ankara darum, meine Kinder in das Flugzeug zu bringen und irgendwie haben sie es geschafft. Am 20. Januar 2022 durfte ich meine Kinder am Wiener Flughafen wieder in die Arme schließen. Ich bin Österreich für immer dankbar dafür.
„Mein größter Wunsch ist ein Forschungsauftrag“
Elias ist jetzt 17 und Maja 15 Jahre alt. Sie gehen in die Schule und haben fast nur Einser im Zeugnis. Beide wollen Medizin studieren. Das macht mich sehr stolz. Am Anfang waren sie schwer traumatisiert und wir mussten einander auch wieder richtig kennenlernen. Elias musste operiert werden, da er nach einem Bombenangriff einen Splitter in seinem Bein hatte. Ich habe meinen Kindern gesagt, wenn ihr euch an die Regeln haltet, die es in diesem Land gibt, habt ihr die Möglichkeit ein gutes Leben zu führen. Und das tun sie. Auch ich kann jetzt nach vorne blicken. Neben meiner Arbeit als Psychotherapeutin im FEM Süd, bin ich auch im FEM Nord tätig und gerade eröffne ich eine eigene Wahlarztpraxis im 3. Bezirk. Ich mache ein Diplom in Homöopathie von der Ärztekammer, das drei Jahre dauert und mein größter Wunsch ist es, einen Forschungsauftrag an einer österreichischen Universität zu bekommen. Ich bin spezialisiert auf Kinder mit Autismus und Entwicklungsstörung und möchte hier durch meine Forschung meine erfolgreiche Behandlungsmethode auf wissenschaftliche Beine stellen.
„Die Vorurteile sind oft viel zu groß“
Die arabische Community in Österreich ist sehr groß und es gibt viele sehr gut qualifizierte Menschen, die arbeiten wollen und etwas zur Gesellschaft beitragen können. Es fehlt ihnen aber vor allem am Anfang die Sprache, um den richtigen Weg zu finden, ihre Profession auszuüben. Es wäre schön, wenn die AMS-Mitarbeiter:innen besser vernetzt wären und mehr Expertise im Bereich Nostrifikation hätten. Auch ihre Vorurteile sind oft viel zu groß. Ich kann neu ankommenden Menschen sagen, dass sie nie die Hoffnung verlieren sollen. Sie müssen versuchen den richtigen Weg zu finden und immer wieder nachfragen bei verschiedenen Stellen. Ich fände es nicht schlimm Putzfrau zu sein, aber es gab einen enormen Bedarf an meiner Qualifikation und meinen Sprachkenntnissen. Es würde viel verloren gehen, wenn ich jetzt putzen würde, anstatt täglich so vielen Menschen mit Traumata, Depressionen und Ängsten zu helfen.“
Sie mussten aus ihrem Heimatland fliehen und fast alles zurücklassen. Jetzt arbeiten sie in Österreich in einem systemrelevanten Beruf und zählen zu den Stützen der österreichischen Gesellschaft. In der 11-teiligen Porträtreihe „Stützen der Gesellschaft“ erzählen geflüchtete Menschen, wie sie unter oft sehr schwierigen Bedingungen einen Neuanfang geschafft haben, und welche Wünsche und Ratschläge sie haben. Wenn Sie Geflüchtete unterstützen wollen, finden Sie hier Infos und Kontakte. Alle bereits veröffentlichten Porträts der aktuellen Reihe sowie unsere Porträtreihen der letzten Jahre sind hier nachzuschauen: www.hierangekommen.at
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