Wer kann sich wohnen noch leisten?
In Wien wohnt man im internationalen Vergleich noch relativ günstig. Dennoch wendet jeder fünfte Haushalt rund 40 Prozent des Einkommens für das Wohnen auf. Corona hat die Situation verschärft. Wie kommt das? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Robert Temel
Wohnen in Wien wurde in den letzten zwei Jahrzehnten viel teurer: Von 2000 bis heute stieg die Quadratmeter-Bruttomiete von 4,60 Euro auf 8,70 Euro, also um etwa 90 Prozent. Der Verbraucherpreisindex stieg in der gleichen Zeit um etwa 50 Prozent. Das sind natürlich Durchschnittswerte, die Steigerungen sind bei Neuvermietungen deutlich höher als bei bestehenden Verträgen. Ein Maß für die soziale Bewertung der Wohnkosten ist der Anteil, den sie am Gesamteinkommen eines Haushalts besitzen, beispielsweise 25 oder 30 Prozent. Wenn man diesen Wert betrachtet zeigt sich, dass sich die Wohnkostensituation in Wien in den vergangenen Jahren zwar deutlich verschlechtert hat, aber im Vergleich mit anderen europäischen Großstädten nach wie vor relativ gut ist – was natürlich für diejenigen, die diese für sie extrem hohen Preise bezahlen müssen, nur ein schwacher Trost ist.
„Das Hamerling“ im 8. Bezirk in Wien: ein ehemals öffentliches Gebäude, das von der bundeseigenenARE und Soravia zu Luxuswohnungen saniert und an einen Investor verkauft wurde.
Während in Wien 18 Prozent der Haushalte über 40 Prozent ihres Einkommens (!) für das Wohnen ausgeben müssen, sind es in Hamburg 38 Prozent und in Berlin (wo noch vor nicht allzu langer Zeit das Wohnen ziemlich günstig war) 50 Prozent der Haushalte, wie Lukas Tockner, Wohnexperte der Wiener Arbeiterkammer, erklärt. Der Grund dafür ist der hohe Anteil an geförderten und Gemeindewohnungen in Wien, die die Preise lange gedämpft haben. Denjenigen, die heute eine Wohnung suchen, und zwar möglicherweise schnell, etwa wegen einer Trennung oder weil sie gerade zugezogen sind, hilft das wenig. Vor allem Alleinerziehende und Menschen mit niedriger formaler Bildung haben es schwer, zu einer günstigen Wohnung zu kommen. Der Lichtblick ist zumindest: Wer in Wien Anspruch auf eine geförderte oder eine Gemeindewohnung hat, muss vermutlich einige Zeit darauf warten, aber man kann sie bekommen.
Delogierungsfonds eingerichtet
Ein aktuelles Problem ist das drohende Ende der Mietstundungen, die aufgrund der Coronakrise gesetzlich verankert wurden. Viele, die ihre Miete aufgrund von Jobverlust oder Kurzarbeit plötzlich nicht mehr zahlen konnten, können die Stundungen in Anspruch nehmen. Mitte 2022 werden die Mieten aber vermutlich fällig. Allerdings hat die Bundesregierung einen Delogierungsfonds mit 24 Mio. Euro Dotierung eingerichtet, der die Kosten für jene, die nicht bezahlen können, abfangen soll, schildert Tockner. Wie berechnet wurde, spart man mit der Bezahlung von einem Euro Mietzinsrückstand, der uneinbringlich wäre, zwölf Euro an Folgekosten.
Mittlerweile gibt fast jeder fünfte Haushalt in Wien rund 40 Prozent des Einkommens für Wohnen aus.
Eigentumswohnungen: großteils vermietet
Ungefähr 45 Prozent des Wiener Wohnungsbestandes sind preisgebundene Gemeindewohnungen und geförderte Wohnungen, und in diesen lebt mehr als die Hälfte der Wiener*innen. Warum wird dann das Wohnen so teuer? Dafür gibt es mehrere Gründe. Der bekannteste ist das Bevölkerungswachstum. Wien war bis 1989 eine schrumpfende Stadt. Vom Stand der 1980er Jahre mit etwa 1,5 Mio. Einwohner*innen wuchs Wien auf heute etwa 1,94 Millionen, also um fast ein Drittel. Das bedeutet starke Nachfrage nach Wohnraum und somit steigende Preise. Noch viel stärker sind die Preise für Eigentumswohnungen als für Mieten gestiegen. Doch auch diese Eigentumswohnungen werden zu einem großen Teil vermietet – zumeist befristet und teuer. Damit bieten sie keine stabilen Wohnverhältnisse, wie Tockner beschreibt.
Enorme Menge von Anlagekapital
Allerdings blieb das Angebot über die vergangenen 40 Jahre nicht gleich, sondern es wurden viele neue Wohnungen gebaut, es sind heute etwa 200.000 Wohnungen mehr als damals. Lange Zeit entstand in Wien vorwiegend geförderter Wohnbau, der subventioniert ist und strenge Preisbindungen einhalten muss. Der Anteil an freifinanziertem, also marktorientiertem Wohnbau lag bei etwa 15 Prozent der Gesamtproduktion. Das hat sich allerdings seit der Finanzkrise 2008 geändert. Eine enorme Menge von Anlagekapital ist auf der Suche nach ertragreichen Anlageformen, und die findet es im „Betongold“. Der Effekt: Heute liegt der Anteil des geförderten Wohnbaus nur mehr bei etwa einem Drittel des jährlichen Wohnbauvolumens. Der Durchschnitt der letzten Jahre waren 5.000 geförderte und 10.000 freifinanzierte Wohnungen pro Jahr. Für letztere gibt es keinerlei Preisbindung, und ein Großteil dieser freifinanzierten Wohnungen wird auch nicht primär für seine zukünftigen Bewohner*innen gebaut, sondern für den Anlegermarkt. Das bedeutet in der Praxis, dass diese Wohnungen im Schnitt in deutlich geringerer Qualität als der geförderte Wohnbau, aber mit viel höheren Mieten (oder Kaufpreisen) angeboten werden. Die große Anlegernachfrage und Produktion haben einen weiteren Effekt, nämlich eine große Nachfrage nach Bauland, was wiederum die Grundstückskosten für alle, auch für geförderten Wohnbau, in die Höhe treibt. Und schließlich führen diese große Nachfrage und das große Bauvolumen von hochpreisigem Wohnbau mit Preissteigerungen und Lieferengpässen bei Baumaterialien dazu, dass die Baupreise für alle stark steigen. Der geförderte Wohnbau kalkuliert seine Kosten zwar nicht nach Marktkriterien, er kann sich aber beim Grundstückskauf und bei den Baupreisen dem Markt nicht völlig entziehen. Deshalb steigert all das auch die Preise im sozialen Wohnbau. Es wird also einerseits schwieriger, Grundstücke für den gemeinnützigen Wohnbau zu finden. Und gleichzeitig gibt es einen Bauboom im freifinanzierten Bereich, obwohl der Bedarf nach günstigen geförderten Wohnungen größer wäre. In dieser Schere befindet sich der gemeinnützige Wohnbau in Wien.
AK-Wohnexperte Tockner: Eigentumswohnungen werden zu einem Großteil vermietet.
Vorausschauende Bodenpolitik
Was kann man nun dagegen tun? Die Stadt Wien betreibt schon seit vielen Jahrzehnten eine vorausschauende Bodenpolitik, das heißt, sie kauft langfristig Flächen, die für geförderten Wohnbau günstig zur Verfügung gestellt werden. Das funktioniert allerdings nur, solange der städtische Bodenfonds günstig kaufen kann. Das war in den letzten Jahren nicht mehr so. Deshalb verankerte die Stadt Wien 2018 in der Bauordnung die neue Widmungskategorie „geförderter Wohnbau“. Flächen, die so gewidmet sind, und das sollen die meisten sein, müssen zur Hälfte bis zu zwei Dritteln mit gefördertem Wohnbau bebaut werden – und sie müssen zu den niedrigen Preisen des geförderten Wohnbaus verkauft werden. Das ist ein direkter Eingriff in den Bodenmarkt und wird hoffentlich positive Auswirkungen auf die Wohnkosten haben. Ob das funktioniert, kann man noch nicht eindeutig sagen, weil die Raumplanung ein sehr langsam reagierendes Handlungsfeld ist.
Wie die Zukunft des leistbaren Wohnens in Wien aussehen wird, ist somit aus heutiger Sicht kaum vorhersagbar. Der Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen Österreichs hat kürzlich bekanntgegeben, dass es aktuell schwierig ist, überhaupt bezahlbare Angebote von Baufirmen zu bekommen, weil innerhalb eines Jahres die Materialkosten um über 22 Prozent gestiegen sind. Man hofft auf baldige Stabilisierung. Wie realistisch das in Kriegszeiten ist, sei dahingestellt. Gerade jener Sektor, der für praktisch alle neuen leistbaren Wohnungen in Wien verantwortlich ist, kommt also in absehbarer Zeit ins Stocken, während der teure freifinanzierte Wohnbau weiter floriert, weil dort extrem hohe Mieten verlangt werden und die Preissteigerungen somit wenig Probleme machen, sie schmälern nur ein wenig die Gewinne.
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